Salomo und die Ameise

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Der Islam wird häufig als strikte Gesetzesreligion wahrgenommen. Zweifellos tragen zu diesem Bild die vielen Rituale und Gebote bei, denen praktizierende Muslime Tag für Tag nachkommen. Bleibt denn neben all der Aufmerksamkeit, die die tägliche Religionspraxis abverlangt, überhaupt Zeit für eine offene Haltung der Achtsamkeit?

Die Gebote in der tieferen geistigen Bedeutung leben

Um diese Frage zu beantworten, reicht ein Blick in die islamische Tradition. Der Prophet Mohammed sagte etwa: "Es gibt einige, die fasten, aber dadurch nichts gewinnen werden außer Durst, und es gibt einige, die beten, aber durch ihr Gebet werden sie nichts erlangen außer Müdigkeit.“ Das Fasten und Beten ist also nicht Zweck an sich, sondern Mittel zum Erreichen einer höheren Bewusstseinsform. Was jedoch im Eifer vieler Muslime, die richtige Form zu bewahren, manchmal in Vergessenheit geriet. So entwickelte sich der Sufismus aus einer Kritik am Formalismus und Dogmatismus islamischer Gelehrter. Bezeichnend hierfür die Verse von Sanai, Dichter und Sufi des 12. Jahrhunderts, über die zwei wichtigsten Gründer islamischer Rechtsschulen, denen heute die meisten Muslime angehören: "Ab¯u Han¯ıfa hat keine Liebe gelehrt, Schafi’i kennt keine Überlieferung darüber.“ Immer wieder stellen sich Muslime gegen geistlosen Legalismus, der die freie Entfaltung des persönlichen religiösen Lebens eingrenzt.

Denn die beiden Hauptquellen des Islams, Koran und Sunna, inspirieren zu einem spirituellen Weg der Achtsamkeit mit dem Ziel, die Gebote in ihrer tieferen geistigen Bedeutung zu leben. So heißt es im Koran (57:16): "Ist es nicht für die, die glauben, an der Zeit, dass ihre Herzen demütig werden vor dem Gedenken Gottes?“ Es reicht also nicht, das dichte islamische Programm abzuspulen, wenn das Herz davon unberührt bleibt. Gedenken Gottes bedeutet vor allem eine achtsame Haltung einzunehmen, sich selbst und der Schöpfung gegenüber. Wie Salomo mit seinen Truppen (Koran 27:17-19): Wäre dieser unaufmerksam seinen Weg gegangen, hätte er wohl kaum eine kleine Ameise ihr Volk warnen gehört. Allein seine achtsame Haltung bewirkte, dass er sie bemerkte, Gott daraufhin lächelnd für seine Gaben dankte, und seinen Weg in kleinen Bogen um das Ameisenvolk weiterführte.

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