Schatten des lebendigen Lichts

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Das Licht, das ich schaue, ist nicht an den Raum gebunden. Es ist viel, viel lichter als eine Wolke, die die Sonne in sich trägt. Weder Höhe noch Länge noch Breite mag ich an ihm zu erkennen. Es wird mir als der ,Schatten des lebendigen Lichtes' bezeichnet. Und wie Sonne, Mond und Sterne in Wassern sich spiegeln, so leuchten mir Schriften, Reden, Kräfte und gewisse Werke der Menschen in ihm auf."

So äußert sich Hildegard, Äbtissin im Kloster Rupertsberg bei Bingen am Rhein, zum Mönch Wibert über ihre Visionen. 1175, als sie obige Zeilen schreibt, ist sie bereits 77 Jahre alt und landauf, landab als "Prophetissa teutonica" ("deutsche Prophetin") bekannt.

Jahrhunderte später erlebt Hildegard ungeahnte Renaissance: Die historische Gestalt wird neu entdeckt, unzählige Attribute machen sie zu einer Bezugsperson für viele Zeitgenossen, die - aus unterschiedlichen Richtungen kommend - Hildegards Denk- und Glaubensweise zu einem "Wallfahrtsort" der Gedanken, rastloser Seelen und nimmermüder Sehnsüchte werden lassen.

Mystikerin, Theologin, Seherin, Äbtissin, Wissenschafterin, Dichterin, Musikerin, Ärztin, Gesprächspartnerin von Päpsten, Bischöfen, Kaisern, Königen, Ratgeberin für die Menschen - so wird die kränkliche und unter der Macht und dem Schwall der Visionen fast Zerbrechende von den Biographen geschildert. Ein Beispiel einer außergewöhnlichen Frau, wo die zeitgenössische Theologie (etwa Thomas von Aquin, der 100 Jahre später lebte) die Frau doch als ein unvollkommenes Wesen ansah ...

Der Hildegard-Boom läßt sich nicht fassen, Publikationen über sie (und von ihr) füllen meterweise die Regale der Buchhandlungen. Ihr neunhundertster Geburtstag, der dieses Jahr begangen wird, läßt weitere Verkaufssuperlative erwarten (und befürchten).

Daß Hildegard zur Zeit "in" ist, hat aber mehr mit der Sehnsucht einer ausgehenden Epoche denn mit erfolgreichem Marketing zu tun. Denn Hildegard von Bingen kann auch als Prototyp einer Gestalt gesehen werden, die dem postmodernen Lebensgefühl entgegenkommt: Der Rationalität der Moderne wird eine Post-Rationaliät des "Visionären" entgegengesetzt. Der Zerteilung der Wirklichkeit, wie sie in prominenten Bereichen der Wissenschaft gang und gäbe ist, soll mit Hildegard als Kronzeugin eine "ganzheitliche" Sicht der Dinge entgegengesetzt werden.

Ohne Zweifel ist dieser Zugang eine Vereinnahmung der Frau vom Rupertsberg - was ihre Bedeutung nicht schmälert, wohl aber die Wahrnehmung durch ihre Vereinnahmer relativiert. Hildegard bleibt faszinierende Gestalt: Lehrerin und deutbares Vorbild. Wer sie entdeckt, wird auch altes Wissen neu entdecken. Beispielsweise, daß Wissenschaft und Mystik kein Gegensatz sind: "Kampf und Kontemplation", "Ora et Labora" - diese christlichen Lebensgrundlagen sind bei Hildegard leicht zu erfahren. Oder daß "sakral" und "säkular" keineswegs so getrennt sein müssen, wie es in den gegenwärtigen Gesellschaften notwendig scheint: Hildegard war zu ihrer Zeit durchaus eine politisch Handelnde, eine spirituelle Stimme - auch im Alltag des Mittelalters.

Schließlich könnte mit Hildegard von Bingen die Religion wieder ins Spiel kommen: Der unbeantworteten, derzeit oft ungestellten Frage nach Gott könnte mit der 900jährigen Äbtissin vom Rhein neue Aktualität verliehen werden: "Schatten des lebendigen Lichts" zu finden wäre auch heutzutage ein lohnender Auftrag.

Hildegard von Bingen - Lebenspunkte 1098 Als zehntes Kind der Edelfreien Hildebert und Mechthild auf dem Gut Bermersheim/Rheinhessen geboren.

1106 In die Obhut der Klausnerin Jutta von Spanheim auf den Disibodenberg bei Bingen übergeben; dort lebt sie als "Eingemauerte" und wird in Wissen und Künsten der benediktinischen Tradition unterwiesen.

1114 Die Novizin Hildegard erhält den Schleier aus der Hand des Bischofs Otto von Bamberg.

1136 Nach Juttas Tod wird Hildegard Meisterin des Nonnenklosters Disibodenberg. Entwicklung der Gabe der visionären "Schau".

1141-51 Entstehung von "Scivias Domini" ("Wisse die Wege des Herrn"), aufgeschrieben vom Mönch Volmar und der Nonne Richardis.

1147 Erster Kontakt zu Bernhard von Clairvaux, der auf der Synode von Trier dem Papst aus Hildegards Schriften vorlesen läßt.

1148-62 "Liber Vitae Meritorum" (Buch der Lebensverdienste).

1150-60 "Physica" und "Causae et Curae" (naturheilkundliche Schriften).

1152 Baubeginn des eigenen Klosters auf dem Rupertsberg bei Bingen, das sie als Äbtissin bis zum Tod leitet.

1163-73 "Liber Divinorum Operum" (Schau über Welt und Mensch).

1177 Exkommunikation wegen eines unerlaubten Begräbnisses im Kloster. Hildegards Protestschreiben an die Mainzer Prälaten enthält eine Theologie der Musik, der Mainzer Bischof hebt den Kirchenbann auf.

1179 Tod am 17. September.

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