Schauhungern im Café

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Nicht nur in Wien sah der satte kleine Mann dem Artisten gern beim Hungern zu. Eine Sensation der Welt von gestern.

Im 3. Kaffeehaus im Prater begann gestern Herr Riccardo Sacco, der sich einen Hungerkünstler nennt, eine Production, die 21 Tage dauern wird. Seine Kunst ist das Hungern." So begann im Mai 1905 das populäre Illustrierte Wiener Extrablatt seinen Bericht über eine der vielen damals ungemein populären Hunger-Shows in Wien. Nachzulesen im neuen Buch "Hungerkünstler - eine verschwundene Attraktion" von Peter Payer. Im Jahr 2001 strahlte der Privatsender RTL II seine Reality-Show "Big Diet" aus. Auch hier durften wir TV-Konsumenten dem Hungern anderer zusehen. Der menschliche Voyeurismus kennt keine Jahreszahl.

Wien im Fin de Siècle, das war nicht nur eine Stadt großbürgerlicher Kultur. Die seinerzeitige Residenzstadt war in zumindest gleichem Ausmaß auch eine Stadt vulgärer volkstümlicher Spektakel. Die Spekulation mit der derben Lust am Abnormen, gleich, ob es sich im Einzelfall um Hungerkünstler, Affenmenschen, Riesen oder Zwerge handelte, konnte im Wien von 1900 stets mit einem guten Geschäft rechnen. Was in früheren, christlich durchwirkten Jahrhunderten verklärt-verängstigt als "Fastenwunder" bezeichnet wurde, verwandelte sich in den Kaffeehäusern des alten Wien, aber nicht nur dort, zu umsatzsteigernden Shows, die den "Hungerleidern" wie auch den Kaffeehausbesitzern gutes Geld einbrachten.

Wie lief eine solche Schaustellung nun ab? Meist saß der "Künstler", die Hungerexperimente waren um 1900 durchwegs Angelegenheit von Männern, in einem von überall gut einsehbaren Glaskubus, während das Publikum bei Melange und Torte für sein Eintrittsgeld dem stillen, eher unspektakulären Treiben zusah. Die damaligen Sternchen dieses alteuropäischen Unterhaltungsgeschäftes hießen etwa Giovanni Succi, Riccardo Sacco oder Claire de Serval. Sie saßen meist still in ihren "Schaufenster-Betten", lasen Zeitschriften und Bücher und tranken vielleicht zwischendurch ein Glas Wasser, nachher unterhielten sie sich mit dem Publikum oder standen herbeigeeilten Wissenschaftlern für deren Untersuchungen zur Verfügung. Die eigentliche Attraktion, ihr öffentliches Fasten, geschah gleichsam nebenbei. Der Reiz, die besondere Lust des Ganzen lag somit in der öffentlichen Kontrolle des Publikums: Isst er auch ja nichts?

Die Hungerkünstler waren einzelgängerische Zirkusmenschen, umherreisende Alleinunterhalter, die damals in ganz Europa nicht nur die Kaffeehäuser, sondern auch die Tagespresse zu füllen verstanden. In Wien, Berlin, Stockholm oder London feierten sie ihre Hungerrekorde von 21, 32, ja mitunter 44 Tagen des Nicht-Essens zu einer Zeit, die sich mehrheitlich als sicher und zukunftsfroh betrachtete. Wien und Europa lebten um 1900 eben nicht nur in einer Epoche heraufziehender politischer und geistiger Krisen, sondern auch des heute nahezu unwirklich erscheinenden Zukunftsoptimismus. Die scheinbar aus dem Nichts auftauchende bunt-skurrile Schar der Hungerkünstler unterhielt die (klein)bürgerliche "Welt von Gestern" ebenso, wie auf den Jahrmarktbühnen am ganzen Körper behaarte Frauen, verunstaltete Kinder oder mit bloßen Händen eiserne Ketten brechende Männer "das Volk" faszinierten.

Erst der Erste Weltkrieg brachte 1914 dann die Zäsur. Franz Kafka notierte Anfang der zwanziger Jahre: "In den letzten Jahrzehnten ist das Interesse an Hungerkünstlern sehr zurückgegangen. Wie in einem geheimen Einverständnis hatte sich überall geradezu eine Abneigung gegen das Schauhungern ausgebildet". Der Hunger, der Verzicht, der Mangel waren still und heimlich auch in die Wohnzimmer des Bürgertums eingetreten. Einen schützenden Glaskubus um den Hunger gab es nicht mehr.

Mit seiner Studie über die "verschwundene Attraktion" legt der Wiener Stadtforscher und Historiker Peter Payer weit mehr vor als nur eine gut recherchierte Geschichte über abgemagerte Artisten. Er erinnert auch mit seinem jüngsten Buch an Facetten der Wiener Stadtgeschichte, über welche die herkömmliche Geschichtsschreibung bislang hinweggegangen ist. Seine Studie über die sprichwörtlichen "Hungerkünstler" ist ebenso Bestandteil einer neuen städtischen Geschichtsschreibung, die sich nach dem Verhältnis von Stadt und Moderne aufs Neue erkundigt, wie sie auch Beweisführung dafür ist, wie "wild" und zugleich auch fremd uns der seinerzeitige Alltag der Wienerinnen und Wiener heute erscheinen muss. Die Erinnerung an die "Wiener Hungerkünstler" gibt nicht nur unseren gegenwärtigen Diätgesprächen und Abnehmhoffnungen historischen Tiefgang. Die Erinnerung an die gut gefüllten Kaffeehäuser oder die umfangreiche Berichterstattung in den damaligen Wiener Boulevardblättern macht auch deutlich, wie sehr es uns heute an einer Geschichtstheorie zum Wiener Kleinbürgertum, welches ja den Hauptteil der Besucher darstellte, mangelt. Während wir über die kulturelle Blüte des jüdisch geprägten Wiener Großbürgertums von A wie Arthur Schnitzler bis Z wie Stefan Zweig bestens unterrichtet sind und ebenso auch über Geschichte und Verdienste der Arbeiterbewegung und des Roten Wien ausreichend Bescheid wissen, will uns zum bunten, widersprüchlichen Mikrokosmos des katholisch-christlich hunderttausendfach geprägten Wiener Kleinbürgertums keine Studie, kein stimmiges historisches Buch aus jüngerer Zeit einfallen.

Was wir einzig zu wissen meinen, ist dessen Empfänglichkeit gegenüber der "politischen Hetz" der Nationalsozialisten mit Beginn der dreißiger Jahre. Aber zuvor? Welches zitable Buch will uns einfallen, das die Auswirkungen der Moderne auf das Wiener Kleinbürgertum mit all seinem Facettenreichtum beschreibt? Auch das vorliegende kleine Buch leistet dies nicht, weist aber in diese Richtung. Payers gut illustrierte und flüssig geschriebene Studie gewinnt nämlich, obwohl eigentlich den Schaustellern in ihren Glaskuben gewidmet, dort zusätzlichen Reiz, wo der Leser nach dem Publikum, also den kleinen bis mittleren Beamten, den Angestellten, den Kleinunternehmern mit sonntäglich ausgeführtem Familienanhang zu fragen beginnt. Es wäre dem Historiker Peter Payer wie auch uns zu wünschen, dass er in einem weiteren Buch den Blick aus dem Glaskubus genau auf jenes sensationshungrige, dabei aber wenigstens zum Teil alles andere als unkultivierte Wiener Kaffeehauspublikum samt seiner späteren gesellschaftlichen wie politischen Verlaufsgeschichte richtet.

Hungerkünstler. Eine verschwundene Attraktion. Von Peter Payer

Sonderzahl Verlag, Wien 2001, 116 Seiten, brosch., e 14,50

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