Schaut’s, was da passiert

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Die Verschreibung von Psychopharmaka an Jugendliche nimmt jüngst auch in Österreich zu. Der Oberste Sanitätsrat wurde vom Gesundheitsminister aufgefordert, das zu überprüfen.

Begonnen hat alles im Jahr 1944. Leandro Panizzon, einem Angestellten der schweizerischen Firma Ciba (heute Novartis), gelang es, Methylphenidat (MPH) zu synthetisieren. Seine Frau Marguerite kostete die Substanz im Selbstversuch und war von der leistungssteigernden Wirkung beeindruckt. Von ihrem Spitznamen Rita leitete sich der heute bekannte Handelsname für das Präparat Ritalin® ab.

Wie alle Methylphenidat-hältigen Mittel steigert Ritalin die Konzentrationsfähigkeit, erhöht die Aufmerksamkeitsspanne, minimiert die Ablenkbarkeit und Impulsivität und macht nervöse Menschen ruhiger. Im Jahr 1954 wurde es auf dem deutschsprachigen Markt für Kinder und Jugendliche rezeptfrei eingeführt, aber 1971 dem Betäubungsmittelgesetz unterstellt. Im April 2011 wurde das zugelassene Anwendungsgebiet um die Behandlung Erwachsener erweitert. Die Zulassung umfasst sowohl die Weiterbehandlung über das Kinder- bzw. Jugendalter hinaus als auch die Neueinstellung mit Methylphenidat im Erwachsenenalter. Die Markteinführung des Präparats "Medikinet adult“ erfolgte am 1. Juli 2011.

Wirkung hält nur wenige Stunden

In Form von Ritalin wird Methylphenidad oft an Kinder mit diagnostiziertem ADHS, Aufmerksamkeitsdefizit bzw. Hyperaktivitätsstörung, verabreicht. Wobei es sich bei ADHS um keine Krankheit handelt, sondern um eine "Störung mit Krankheitswert“, welche die "Lebensführung erschwert“. Konkret geht es um Symptome wie beispielsweise übermäßige, motorische Unruhe, gestörte Aufmerksamkeit, Impulsivität und leichte Erregbarkeit. Daher wurde diese Störung von der WHO in die Liste der psychischen und Verhaltensstörungen nach ICD-10 aufgenommen ("Einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung“ F 90.0; "Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens“ F90.l). Bei Präparaten wie Ritalin handelt es sich daher um kein Heilmittel, es unterdrückt lediglich Symptome. Da diese Wirkung nur ein paar Stunden anhält, muss das Mittel kontinuierlich eingenommen werden.

Die Ausgaben für ADHS-Medikamente haben sich im Zeitraum von 1993 bis 2003 verneunfacht. In Deutschland werden heute Kinder jährlich mit nahezu 1,8 Tonnen Methylphenidat behandelt.

Die Techniker-Krankenkasse Deutschlands etwa berichtet für ihre Versicherten der Altersgruppe 6 bis 18 Jahre einen Anstieg der Methylphenidat-Verschreibungen um 30 Prozent in der Zeit von 2006 bis 2010. Auch die Tagesdosierungen haben sich in diesen Jahren im Schnitt um 10 Prozent erhöht. Mahnende Worte sind eine Folge.

So drängen Experten wie beispielsweise Hannsjörg Seyberth, Vorsitzender der Kommission für Arzneimittelsicherheit im Kindesalter der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin und ehemaliger geschäftsführender Direktor des Zentrums für Kinder- und Jugendmedizin der Philipps-Universität Marburg, zu besonderer Umsicht: "Die Kinder stehen heute unter einem enormen familiären und schulischen Druck, zu funktionieren. Verhaltensauffälligkeiten sofort mit Medikamenten zu bekämpfen, ist dabei der falsche Weg.“

Zurückhaltung bei Psychopharmaka

Hannsjörg Seyberth empfiehlt daher, die Verwendung von Medikamenten einer eingehenden Prüfung zu unterziehen: "Gerade vor dem Einsatz von Psychopharmaka sollten die Ursachen der psychischen Störung genau untersucht und wenn möglich mit anderen Therapiemöglichkeiten wie zum Beispiel Psycho- oder Verhaltenstherapie behandelt werden.“ Zur Begründung seiner Zurückhaltung sagt Seyberth, die Spätfolgen und die Langzeitwirkungen von Psychopharmaka bei Kindern "sind bisher nur wenig erforscht“.

Ebenfalls besorgt äußerte sich Gesundheitsminister Alois Stöger im FURCHE-Interview: "Es geht immer um die Frage, wie geht man mit der Medikation von Kindern um? Wie geht man mit den auf die Psyche wirkenden Medikamenten um? Das ist ein besonders heikles Thema, aber wir schauen da sehr kritisch darauf. Sehr kritisch. Was nicht heißt, bestimmte Präparate zu verteufeln. Aber man muss wie immer die Menge, die Summe und die gesamte Verschreibemenge kritisch betrachten. Ich habe das ganz konkret dem Obersten Sanitätsrat gesagt: Schaut’s d’rauf, was da passiert!“

In den USA nehmen laut 2008 publizierten Studien je nach Bundesstaat bis zu 15 Prozent der Jugendlichen Psychopharmaka, in Deutschland drei und in Österreich ein Prozent. Fachärzte fordern für Österreich ein breiteres Angebot an psychischer Betreuung für Jugendliche.

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