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Die EU kritisiert Athen wegen des Umgangs mit Flüchtlingen, lässt aber mit dem Dublin-II-System jegliche Solidarität missen, analysiert die NZZ.

Die Bedingungen, unter denen Flüchtlinge und Migranten ohne Papiere in Griechenland leben, sind menschenunwürdig. Mehrere hunderttausend Personen, die in Athen, Thessaloniki oder den Hafenstädten Patras und Igoumenitsa leben, sind auf sich allein gestellt, in den meisten Fällen obdachlos und haben keinen Zugang zu medizinischer Versorgung. Die Übergriffe gegen Migranten und Flüchtlinge haben in jüngster Zeit beängstigende Ausmasse angenommen. Zudem drängt sich der Eindruck auf, dass an der Strafverfolgung der Täter kein Interesse besteht. Oft sind Polizisten selbst Täter. Ein Anfang Juli veröffentlichter Amnesty International-Bericht zur Polizeigewalt in Patras gegenüber Migranten spricht eine klare Sprache

Bequeme Lösung für Westeuropa

Der Europarat zeigte sich Anfang 2012 entsetzt ob der Zustände in griechischen Internierungslagern. Die EU-Kommission äusserte sich im Mai besorgt über die schwere Mängel des griechischen Asylsystems und Verletzungen der Grundrechte von Flüchtlingen. Die Kritik der EU-Institutionen ist berechtigt. Doch gleichzeitig ist sie scheinheilig. Das sogenannte Dublin-II-System hat die Länder an der Peripherie Europas an den Rand ihrer Kapazitäten gebracht. Es sieht vor, dass das Land, in dem ein Flüchtling zum ersten Mal EU-Boden betreten hat, für dessen Asylverfahren zuständig ist. In den vergangenen Jahren war das für einen Großteil (mehr als 300 Neuankömmlinge pro Tag) Griechenland. Athen ist, bei allen selbstverschuldeten Mängeln, mit der blossen Anzahl der Migranten schlicht überfordert. Zudem wollen die meisten nicht in Griechenland bleiben, sondern weiterreisen. Mit der Dublin-II-Regelung haben die westeuropäischen Länder jedoch eine bequeme Lösung gefunden, sich die Flüchtlinge vom Hals zu halten.

Die EU-Kommission kritisierte im Mai «schwerwiegende Mängel in Griechenland» bei der Sicherung der Grenzen. Im März sprachen der deutsche Innenminister, seine österreichische Amtskollegin und weitere Innenminister (allesamt aus Staaten ohne exponierte Aussengrenzen) die Einführung von Grenzkontrollen gegenüber Griechenland an. In diesem Vorschlag zeigt sich das ganze Versagen einer einfallslosen EU-Politik, die einerseits die Axt an die innereuropäische Reisefreiheit legt, andererseits nur mit zunehmender Abschottung und militärischer Aufrüstung auf die Flüchtlingsproblematik zu reagieren vermag. Künftig sollen sogar Drohnen zur Grenzsicherung eingesetzt werden.

Migrationsströme sind nicht aufhaltbar

Im April formulierten die EU-Innenminister in der "Aufnahmerichtlinie“, die noch vom Europäischen Parlament verabschiedet werden soll, Inhaftierungsregeln. Sie sollen es künftig erlauben, Asylsuchende in der EU jederzeit zu inhaftieren. Der deutsche Innenminister setzte zudem die Streichung eines Passus durch, der vorsieht, dass Minderjährige unter keinen Umständen inhaftiert werden dürfen.

Europa täte gut daran, die Dublin-II-Regelung aufzuheben - der von vielen Ländern vorerst praktizierte Stopp der Rückschiebungen nach Griechenland ist ein wichtiger Schritt - und ein solidarisches europäisches Asylsystem mit einem humanitären Verteilungsschlüssel einzurichten. Zudem muss es sich um ein tragfähiges und humanes Konzept kümmern, wie mit wirtschaftlicher Migration umgegangen wird. Eine blosse Politik der Abschottung wird die Flüchtlingsströme nicht aufhalten. Vielmehr wird sie nur dazu führen, dass die Migranten immer riskantere Routen suchen und kriminellen Schlepperbanden immer grössere Summen zahlen, um nach Europa zu gelangen. Die EU nimmt den Tod dieser Menschen in Kauf.

Neue Zürcher Zeitung, 24. Juli 2012

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