Schiele im Gefängnis

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Ein Richter a.D. und Schiele-Bewunderer räumt Irrtümer über den Neulengbacher Prozeß aus.

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Ein Richter a.D. und Schiele-Bewunderer räumt Irrtümer über den Neulengbacher Prozeß aus.

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Hat sich Österreichs Justiz unsterblich blamiert, banausenhaft verhalten, gar das Recht gebeugt, als Egon Schiele am 4. Mai 1912 nach 21tägiger Untersuchungshaft in Neulengbach zu drei Tagen Kerkerhaft verurteilt wurde? Weswegen überhaupt? Als Pornograph? Wegen eines Sexualdelikts an einer Minderjährigen? Widersprüchige Lesarten kursieren. Das 1922 erschienene Buch "Egon Schiele im Gefängnis" von Arthur Roessler gilt längst nicht mehr als verläßlich. Die Unwissenheit amerikanischer Autoren über die österreichische Prozeßordnung produzierte weitere Mißverständnisse.

Franz Wischin versucht mittels seiner doppelten Kompetenz, als Kenner Schieles und der Schiele-Literatur und Richter i.R., den Nebel zu durchdringen. Das Ergebnis fasziniert: Optisch ein Kabinettstück anspruchsvoller Buchkunst, textlich ein Kabinettstück kunsthistorischer Kriminalistik.

Schieles Gerichtsakt wurde entweder routinemäßig vernichtet oder, mit allen anderen Akten des Bezirksgerichts Neulengbach, 1945 von russischen Soldaten verheizt. Schieles eigenhändige Empfangsbestätigung der gerichtlichen Beschuldigtenladung für den übernächsten Tag, den 13. April 1912, blieb aber erhalten und gelangte auf unbekannten Wegen in die USA. Wischin untersucht also die Aussagekräftigkeit vorhandener Briefe, schätzt die Glaubwürdigkeit einander widersprechender Behauptungen ein, wägt ab, gewichtet, berücksichtigt jedes wichtige bekannte Detail, wertet die Handlungen damaliger Gerichtspersonen nach damaligen Maßstäben und spricht dann ein überzeugendes Urteil.

Es lautet auf Freispruch für die österreichische Justiz in der Hauptsache. Schiele hat sich das Verfahren, das zu einem schweren, sein weiteres Leben überschattenden Trauma werden sollte, durch Gutmütigkeit und Unbedachtheit selbst heraufbeschworen, als er und seine Freundin Wally das seiner Familie entlaufene Mädchen Tatjana bei sich schlafen ließen und es nach Wien mitnahmen, wo es angeblich seine Großmutter besuchen wollte. Damit war der Tatbestand der Entführung gegeben. Die Lawine wurde losgetreten, als die Polizisten bei Schiele dessen heute weltberühmte Aktzeichnungen Minderjähriger sahen - und er offenbar ohne Notwendigkeit noch eine Lade mit weiteren Aktzeichnungen öffnete. Negativ für Schiele wirkte sich auch aus, daß er Minderjährige seine Aktzeichnungen hatte ansehen lassen. Der Verdacht auf ein Sexualdelikt ist in Anbetracht der damaligen Prüderie und Doppelmoral nachvollziehbar, wurde aber vollständig entkräftet. Die wegen Verdunkelungsgefahr verhängte Untersuchungshaft war aber kein Übergriff der Justiz.

Der Richter zeigte Augenmaß, als er Schiele nur zu drei Tagen verurteilte - nicht zuletzt wegen der unverhältnismäßig langen Untersuchungshaft. Offenbar schätzte er auch die Körperhaltungen, zu denen Schiele seine Modelle veranlaßt hatte, als durch die künstlerische Absicht bedingt richtig ein. Hingegen war die Vernichtung der Aktzeichnung, die die Polizisten in Schieles Schlafzimmer von der Wand genommen hatten, gesetzlich nicht gedeckt. Die Verbrennung über der Kerzenflamme am Richtertisch hingegen ist nach Wischins Ansicht reine Dichtung.

Egon Schiele - Ich Gefangener. Kunst oder Kinderpornographie: Die Affäre von Neulengbach 1912 Von Franz Wischin, Christian Brandstätter, Wien 1998, 96 Seiten, viele Bilder, geb., öS 398,

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