Schlachtfeld Internet

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Das Netz der Netze hat seine Unschuld verloren. Sein Missbrauch als Transportsystem zeigt vor allem eines: Die Grenze zwischen virtuell und real ist schwer zu ziehen.

Würde er nicht wegen der Vorwürfe von Straftaten einer ungewissen Zukunft entgegensehen, Julian Assange wäre vermutlich sehr zufrieden mit sich selbst. Sein Konterfei ziert unzählige Titelseiten rund um den Globus. Seine Whistleblower-Plattform WikiLeaks ist bekannter (und gefürchteter) denn je. Tausende seiner Sympathisanten lehren Unternehmen wie Mastercard oder Amazon mit Online-Attacken seit Tagen das Fürchten.

Rund um die Person des charismatischen Dandys ist ein erbitterter Konflikt entbrannt. Es ist noch nicht der große "Cyberwar", den die Wissenschaftler David Ronfeldt und John Arquilla in einer Studie bereits 1993 prophezeiten. Doch er zeigt, dass das Internet als technologische Infrastruktur indifferent ist gegenüber dem Inhalt der beförderten Datenpakete. Mit anderen Worten: dass es sich auch perfekt für formidable Gemeinheiten eignet.

Anfragen bis die Server zusammenbrechen

Die Ereignisse der vergangenen zwei Wochen hätten das Potenzial für eine rasante Kriminalgeschichte, wären sie nicht selbst schon eine. Wenige Stunden vor der geplanten Veröffentlichung der mittlerweile berüchtigten Diplomaten-Depeschen wurden die WikiLeaks-Server Opfer eines sogenannten DoS-Angriffs (Denial of Service). Dabei werden die Server mit automatisierten Anfragen bombardiert bis sie zusammenbrechen.

Die Informationen von WikiLeaks fanden dennoch ihren Weg ins Netz. Seither veröffentlichen Medien im Tagesrhythmus neue Enthüllungen von recht unterschiedlicher welt- und staatspolitischer Brisanz.

Das US-Unternehmen Amazon entfernte - wahrscheinlich auf Wunsch der amerikanischen Regierung - die WikiLeaks-Seiten von ihren Servern. Als nächstes sperrten Finanzdienstleister WikiLeaks-Konten, was einen Stopp der Spenden für die Organisation bedeutete. Julian Assange wurde in London aufgrund eines nur in Schweden strafrechtlich relevanten Delikts kurzzeitig verhaftet.

Dieser geballte Kraftakt gegen WikiLeaks bewirkte das Gegenteil des Beabsichtigten. Knallharte Computerprofis solidarisierten sich mit den in ihren Augen zu Unrecht geprügelten Enthüllern. Das Eingreifen der Hackergruppe "Anonymous" bewirkte eine wohl beispiellose Eskalation: Als Strafaktion ("Operation Payback") deklariert bombardierten Tausende Personen tagelang die Webserver von WikiLeaks-Gegnern wie Amazon, Mastercard, PayPal und anderen Unternehmen mit DoS-Attacken. In Holland wurde dafür ein 16-Jähriger als vermutlicher Rädelsführer verhaftet. Einen Tag später legten Unbekannte die Webseite der niederländischen Staatsanwaltschaft lahm.

Mit einem Wort: Es gibt Zoff im Internet. Inzwischen geht es längst nicht mehr nur um WikiLeaks und ihren Sprecher Assange. Seine Sympathisanten und die Hacker fordern Transparenz sämtlicher Daten und uneingeschränkte Meinungsfreiheit. Ihre Gegner kontern, dass Demokratie ohne Geheimnisse nicht bestehen kann. Beide Seiten sind im Recht, insofern sie jeweils ein wertvolles Gut zu schützen versuchen. Beide Seiten liegen aber auch falsch, weil ihre Aktionen reiner Reflex sind, wo Reflexion vonnöten wäre.

Auf Geheimnisse bedachte Staaten sind nicht automatisch Orwell'sche Terrorregimes, erboste Hacker nicht per se kriminelle Anarchisten. Zur Disposition steht deshalb nicht weniger als das Verhältnis von Staaten zu ihren Bürgern. Information und ihre Wege sind das, was beide miteinander verbindet. Das Internet als solches nimmt in diesem Konflikt, und allen vergleichbaren die noch folgen werden, eine besondere Rolle ein. Es ist nicht nur Schlachtfeld, sondern zugleich Gegenstand des Kampfes.

Dass mit WikiLeaks und ähnlichen Plattformen neue Akteure auf das politische Spielfeld drängen, schmeckt den offiziellen Stammmannschaften naturgemäß nicht. Dass sie sich nicht mit den gewohnten Regularien kontrollieren lassen, noch weniger. Wer die neuen Technologien am besten beherrscht, hat einen klaren Vorteil im Belehrungswettbewerb. Computerkriminalität ist kein neues Phänomen. Sobald aber die Kommunikationswege der Herrschenden selbst nicht mehr sicher sind, tropft Angstschweiß auf plüschgepolsterte Regierungsstühle.

Entscheidungen brauchen länger als Neues

Was also tun? Alle Informatikstudenten oder Computerkäufer einem psychologischen Test unterziehen? Das wäre absurd.

Es lässt sich wiederholt beobachten, dass mit Macht ausgestattete Organisationen, seien es Unternehmen oder Regierungen, nur schlecht mit den gesellschaftlichen Veränderungen im Netz zurechtkommen. Das ist sogar verständlich, angesichts einer Technologie, die noch kein viertel Jahrhundert alt ist. Freilich sollte man es nicht bei dieser Feststellung bewenden lassen.

Die Rasanz, mit der sich das Internet entwickelt und mit der ständig neue Möglichkeiten der Kommunikation und Interaktion entstehen, überfordert das Tempo herkömmlicher Entscheidungsprozesse. Das ist ein ernsthaftes Problem, für das es zwei einfache und eine schwierige Lösung gibt. Die einfachen lauten: Alles verbieten oder alles erlauben. Die schwierige lautet: Den Mittelweg erlernen. Warum letzterer so schwierig ist? Das Internet agiert dynamisch wie ein lebendiger Organismus, allerdings ohne zentrales Steuerorgan. In seinen unzähligen physikalischen Leitungen, Protokollen und Knoten vollzieht sich ein Evolutionsschritt nach und neben dem anderen. Das World Wide Web startete 1989 als Netzwerk für den unkomplizierten Austausch wissenschaftlicher Artikel. Das ist es noch heute, doch gleichzeitig wurde es schnell Heimat für die Verteiler von Kochrezepten, Kunst und Hobbymusik. Aber auch von Kinderpornos und rechtsradikalen Erbärmlichkeiten. Dann entdeckte es der Kapitalismus als Geschäftsmodell für seine Zwecke. Inzwischen steht das Internet mitten in seinem nächsten Evolutionsschritt, dem zum Schauplatz internationaler Konflikte.

Im Internet wiederholen sich die guten aber auch die bösen Seiten menschlichen Strebens. Hier gibt es Idealismus, Zorn und auch das euphorische Gefühl der Macht.

Letzteres empfinden derzeit wohl die Hacker angesichts ihrer kurzweiligen Erfolge gegen den kapitalistischen Feind. Ihrer technologischen Kompetenz ist derzeit nicht viel entgegenzusetzen. Der Naivität ihrer vagen Forderung nach Meinungsfreiheit nur dies: die ideale Demokratie des Netzes ist verloren, nicht zuletzt aufgrund ihrer eigenen Aktivitäten. Das Internet ist längst keine perfekte Parallelwelt mehr. Die Hackerattacken auf Amazon & Co., aber auch die Zensur der Regierungen, zeigen einmal mehr, dass sich Virtuelles und Reales in einem fließenden Intermedium in wechselseitiger Beeinflussung befinden.

Die Regeln des Zusammenlebens darf man immer hinterfragen. Das Internet bietet dafür nur neue Technologien, bislang leider keine neuen Theorien.

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