Schlaraffenland im hohen Norden

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Wer bei Finnland nur an Alkohol, Depressionen, viel Schnee und die traurigen Filme von Aki Kaurismäki denkt, liegt völlig falsch.

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Wer bei Finnland nur an Alkohol, Depressionen, viel Schnee und die traurigen Filme von Aki Kaurismäki denkt, liegt völlig falsch.

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Liebe geht durch den Magen - wenn das stimmt, müßte Helsinki die Stadt der Liebe sein. Am Meer gelegen, weht einem der salzige Duft einer frischen Brise, vermischt mit dem Geruch der Fische, Kräuter, Gemüse und Schwammerln vom Markt den ganzen Tag lang am Hafen um die Nase. Vor Anker liegende Schiffe schaukeln auf den Wellen, sie spiegeln sich in den unterschiedlich sanften Tönen der untergehenden Sonne oder nachts mit dem hellen Mond. Da wird die Stadt langsam still, der Markt weicht romantischer Leere, in der die Seele richtig baumeln kann.

Schon der Anflug über kleine, grüne Inselteppiche und große, weite Waldflächen mit ein paar kleinen Holzhäuschen irgendwo dazwischen, ist verheißungsvoll. Kaum vorstellbar, daß die Thermometer in diesem nordischen Land im Juli auf 30 Grad klettern werden. Es ist das die Zeit, wo sich eine Menge sonnenhungriger Menschen die hellen Nächte bis zwei Uhr morgens und länger um die Ohren schlägt.

Wer nicht schon aufs Wochenenddomizil an einem der fast 200.000 Seen aus der Stadt geflohen ist, macht im Sommer aus seinem Dasein in Helsinki das Beste: Tische, Sessel und Zäune beherrschen die breiten Trottoirs der Boulevards. Einen Platz zu ergattern, wird erst ab Mitternacht ohne Wartezeit möglich. Die Menschen, die dann hier genüßlich in den taghellen Himmel blicken, Kurkonzerten lauschen, und Lachs, Mozarella oder Pasta essen, haben mit Akis Kaurismäkis tragisch-traurigen Filmfiguren nichts gemein.

Auch das, was auf den Teller kommt, ähnelt in keiner Weise den Eintöpfen oder Konservendosen, die in den Kaurismäki-Filmen vor allem traurig und allein in den uncharmanten Einbauküchen der siebziger Jahre verspeist werden. Liebhaber von Fisch, Scampi, Krebsen, Lachs in geräucherter, eingelegter oder frischer Form, Fans aller Arten von Knäcke- oder Roggenbrot, in süß oder salzig, russischem Kaviar, Blinis, Piroggen oder so exotischem wie echtem Elchfleisch kommen voll auf ihre Rechnung. Wem die Liebe im Bauch sitzt, der ist in Helsinki gut aufgehoben, vorausgesetzt, er kann es sich leisten.

Auch Auge und Ohr dürfen sich freuen. Alvar Aalto war ein Finne und glücklicherweise hat er in Helsinki auch einige Bauten hinterlassen. Die "Finlandia"-Halle zum Beispiel zeugt noch immer eindrucksvoll von seiner Fähigkeit, neu Gebautes harmonisch in die Natur einzugliedern. Neben der Schönheit der souveränen Architektur am Wasser lassen sich dort auch Konzerte genießen. Außerdem gibt es seit kurzem eine neue Staatsoper, die in geradezu unglaublicher Weise das Budget sprengte. Statt veranschlagter 200 Millionen kostete sie gigantische 800 Millionen Finnmark, was die Finnen erstaunlicherweise nicht besonders aufregte. Immerhin hat die Stadt nun ein musikalisches Zentrum mehr, das an architektonischer Qualität allerdings dem Aaltoschen Genie nicht das Wasser reichen kann.

Glanz und Design Dafür gibt es zwei andere kulturelle Zentren, die man unbedingt besuchen muß. "Lasipalatsi" ist eines davon. Von den drei finnischen Architekten Niilo Kokko, Viljo Revell, Heimo Riihimäki im Jahr 1935 erbaut, wurde das im klassischen Stil der Moderne errichtete Geschäftshaus behutsam renoviert und dem graffitiübersprühten Verfall entrissen. Heute präsentiert es sich in neuem Glanz. Virtuell gibt es das Gebäude schon im Netz, real ist es jedoch unschlagbar schön. Helles Licht, eine Galerie, Aus-, Ein- und Durchblicke sowie eine Internetbibliothek zeugen vom hohen Standard finnischen Designs: Computer und Workstations sind in filigrane, metallene Möbel elegant integriert. Außerdem beherbergt "Lasipalatsi" noch ein Kino, mit wunderbarer Rampe und großzügiger Vorhalle. Es stammt aus der Zeit jenseits aller Cineplexe, als ein Kinobesuch noch zelebriert wurde. Heute werden die 650 Sitzplätze werden auch für Vorträge genutzt.

Ganz modern ist das "Kiasma" schräg gegenüber. Ein brandneues Museum des amerikanischen Stararchitekten Stephen Holl. Schräge Wände, eine schräge Rampe und viel Platz für moderne Kunst: Werke von Mario Merz, Yannis Kounellis, Louise Bourgeois, Mimmo Paladino, Donald Judd, Claes Oldenburg und anderen sind hier mit dem richtigen Lichteinfall effektvoll in Szene gesetzt.

Der Hauptbahnhof von Eliel Saarinen aus dem Jahr 1914 dokumentiert, wo die Architektur vor Alvar Aalto stand. Außerdem kann man von hier per Bahn direkt nach St. Petersburg fahren. Doch zuerst sollte man sich Helsinki aber noch ein wenig genauer ansehen. Städtebauliche Ensembles von unglaublicher Einheit sind da zu finden. Der deutsche Architekt Carl Ludvig Engel, ein Semper-Schüler, hat der Stadt einige klassizistische Bauten hinterlassen. Der Platz um den imposant proportionierten, für katholisch barockverwöhnte Augen recht kahl anmutenden protestantischen Dom mit der Universität, der Bibliothek dazu und dem Regierungsgebäude bildet ein Lehrbeispiel klassizistischer Stadtgestaltung. Stadtflaneure mit offenen Augen werden auch Jugendstilbauten entdecken und frühe Fabriksgebäude aus Backsteinen.

Ein sakraler Raum besonderer Art ist die Felsenkirche, steinernes Zeugnis der Aufbruchsstimmung in den siebziger Jahren. 1969 von den Architekten Timo und Tuomo Suomalainen erbaut, beweist sie, daß die einfachsten Ideen die größte Wirkung erzielen. Die lutherische Kirche wurde in die Erde gegraben und mit einer eigenartigen kupfernen Flachkuppel bedeckt. Das Flair, inmitten farbenschimmernder Felswände zu sitzen, ist einmalig. Besonders schön sind die Stücke Himmel, die man zwischen Kuppel, Betonstreben und Fels sehen kann. In jedem Fall ist das ein meditativer Raum mit einer hervorragenden Akustik.

Hell bis zwei Uhr früh Ähnlich unterkellert geht es im "Zetor" zu. So heißt ein Lokal in Helsinki, das mit Traktoren aus dem früheren Ostblock als Tischen, umgekehrten Blecheimern als Lampen und Pin-ups auf den Toiletten auf "Leningrad-Cowboys-Flair" gestylt wurde. Die Gebrüder Kaurismäki, deren Filmen das Ambiente nachempfunden ist, hier auch anzutreffen, ist allerdings unwahrscheinlich. Die Möglichkeit allein genügt jedoch, das "Zetor" in jedem Führer erwähnt zu finden.

Helsinkis laue, helle Sommernächte lassen sich besser nutzen: sich dort auf die wunderbare Terrasse vor dem Cafe-Restaurant Kappeli zu setzen und die vorbeiziehenden Spaziergänger zu beobachten, ist herrlich. Um noch etwas Trinkbares zu bekommen, muß man nach Mitternacht allerdings selbst an der Theke ordern.

Am Tag läßt sich die Pracht der Geschäftsstraßen im vollen Sonnenlicht bewundern. Historische Kaufhäuser wie der "Stockmann" bieten auf mehreren Etagen alles, was sich Herz, Augen und Gaumen noch nicht einmal wünschen konnten. Eine Unzahl an Knäcke, Wasa und Konsorten, daneben Frischbrot und eine Patisserie, die den Wiener "Demel" uralt aussehen läßt, ergänzen eine Vielfalt, in der sich von Pfefferminzmarmelade in mehreren Preiskategorien bis hin zum EU-weit erweiterten finnischen Lokalangebot mehr findet, als bei Billa, Meinl und Spar zusammen.

Finnisches Design findet sich immer und überall, von der Gestaltung der Auslagenfenster bis hin zum Mobiliar der Restaurants. Auch der EU-Vorsitz der Finnen ist an der Stadt nicht spurlos vorübergegangen: das alte, renommierte Hotel Kämp wurde von der "Luxury collection", die in Wien unter anderem das "Ferstel" führt, neu adaptiert und prunkvoll mit Marmor und Stuckimitationen, Trockenblumen in Schalen, opulenten Fauteuils und allem, was fünf Sterne Hotels zu brauchen glauben, ausgestattet. Aber es geht nichts über eine laue, helle, lange Nacht am Hafen. Die kostet nichts, und der romantische Mond über Wasser ist nicht zu überbieten. Weil Helsinki im Jahr 2000 außerdem Kulturhauptstadt ist, werden die finnischen Nächte kaum einsam bleiben ...

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