Schlemihls wundersame Weltumsegelung

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Vor 200 Jahren stach das russische Segelschiff Rurik in See, Zweck der Reise: die Erkundung der Nordwestpassage. Die Bedeutung der Weltumsegelung ist auch eine (literatur)historische: Mit an Bord war der Naturforscher und Dichter Adelbert Chamisso.

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Vor 200 Jahren stach das russische Segelschiff Rurik in See, Zweck der Reise: die Erkundung der Nordwestpassage. Die Bedeutung der Weltumsegelung ist auch eine (literatur)historische: Mit an Bord war der Naturforscher und Dichter Adelbert Chamisso.

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Kopenhagen, 17. August 1815: Die russische Brigg Rurik tritt ihre Fahrt um die Welt an, die sie am 31. Oktober 1818 vollenden sollte. Kapitän war Otto von Kotzebue, Sohn des Dramatikers August von Kotzebue, der 1819 dem Attentat Karl Ludwig Sands zum Opfer fiel. Ein Verwandter, Admiral von Krusenstern, hatte die Expedition vorbereitet, finanziert wurde sie von Graf Romanzoff (Rumjanzew), dessen Namen sie trug. Über Plymouth, Teneriffa, Brasilien und Kap Hoorn führte die Reise auf den Spuren Cooks zu den "paradiesischen Inseln" der Südsee und - dies der eigentliche Zweck - in den unwirtlichen Hohen Norden (Kamtschatka, Alaska und Alëuten). Es ging in Nachfolge der Großen Nordischen Expedition Berings um die Frage einer Verbindung zwischen Asien und Amerika und einer Passage durch das Eismeer. Im Pazifik zeichnete sich eine neue Machtverteilung ab: Mexiko löste sich von Spanien, die Laufbahn des Libertadors Bolívar hatte begonnen, in den kalifornischen Presidios war die spanische Macht geschwächt. Seit Cooks Entdeckungen und durch den Seekrieg gegen Frankreich beherrschte Großbritannien die Weltmeere. Die jungen nordamerikanischen Freistaaten erschienen seit der Lewis & Clarke-Expedition 1803/5 quer durch den Kontinent auf dem Schauplatz.

Naturforscher Chamisso

Der "Naturforscher" auf dem Rurik war Adelbert von Chamisso, geboren als Louis Charles Adélaïde de Chamisso auf Schloss Boncourt. Die Revolution vertrieb 1790 die Familie, der Vater schloss sich der Emigrantenarmee an. Der hochbegabte Sohn gelangte als Page der Königin Luise an den preußischen Hof und trat in den Militärdienst. Er erlebte das Ende der preußischen Militärmacht nach der Niederlage von Jena, bei der schmachvollen Kapitulation der Festung Hameln (1806). Die Friedensjahre davor wirkte er in den literarischen Kreisen Berlins zwischen Aufklärung und Romantik (Nordsternbund). In der politischen und persönlichen Krise sah er "eine weite mühselige Wanderung, um die Welt zu erkennen, sich selbst in ihr", vor sich (Adelberts Traum, 1806). Das Völkerschlachtjahr 1813 verlebte er, botanisierend und schreibend, auf dem Itzenplitzischen Gut in Kunersdorf. In dieser Umbruchzeit reflektierte er in der Erzählung "Peter Schlemihls wundersame Geschichte"(1814) Lebensweg und Zukunftshoffnung. Der Name Schlemihl für einen unschuldig vom Unglück verfolgten Menschen kannte er wohl aus den Berliner jüdischen Salons (Varnhagen von Ense, der Gemahl Rahels, war ein Jugendfreund). Heine gab im "Romanzero" eine witzige Erklärung des Namens, der mit Schlamassel zusammenhängt. E. T. A. Hoffmann durchschaute die autobiografische Figur des Freundes und karikierte ihn auf seiner arktischen Reise - Schlemihl lebt schillernd in Offenbachs "Contes d'Hoffmann" (Giulietta-Akt) fort. Bedeutende Künstler wie Menzel oder Kirchner verstanden die Metapher der Entfremdung. Kafka schätzte den Text hoch, und Schlemihl geistert durch das Werk von Isaak Bashevis Singer.

Edelmann und Liberaler

Schlemihl verkauft mit seinem Schatten nicht nur seine bürgerliche, sondern seine menschliche Existenz. Selbst unbeschränkte Geldquellen - "Fortunati Glückseckel und Wunschhütlein" - führen nicht zu Liebe und Glück: "Von der menschlichen Gesellschaft ausgeschlossen, ward ich zum Ersatz an die Natur, die ich stets geliebt, gewiesen ( ), das Studium zu Richtung und Kraft meines Lebens, zu ihrem Ziel die Wissenschaft". "Siebenmeilenstiefel" hetzen Schlemihl um die Welt. Der zu Tode erschöpfte Reisende erwacht als Numero Zwölf im SCHLEMIHLIUM, einer Heilungsstätte, die er einst als reicher Mann gestiftet hatte. Die Weltreise sollte Schlemihl/Chamisso alsbald antreten, und das Aufgehen in der wissenschaftlichen Arbeit an einer universalen Flora und Fauna schlug prophetisch die Brücke vom Schlusssatz der Novelle zum Lebensberuf am Berliner Botanischen Garten. Zwei Gattungen wurden nach Chamisso benannt, und rund 1300 Species tragen den Autornamen CHAM. Als Frucht der Jugendstudien wurde die "Übersicht über die nützlichsten und schädlichsten Gewächse, welche wild oder angebaut in Norddeutschland vorkommen" 1827 gedruckt. Ergänzend zu diesem Handbuch wurden Herbarien für Schulen zusammengestellt: "Ich stehe jetzt einer königlichen Heumanufaktur vor." Eine nach dem Schiffsarzt der Rurik benannte Blume kennt jeder Gartenfreund: Eschscholzia californica CHAM. - der anmutige Goldmohn aus der Bai von San Francisco. Die Bezeichnung "Schlafmützchen" weist nicht nur auf Knospenform und das nächtliche Zusammenfalten der Blüten hin, sondern auch auf die pharmazeutische Verwendung als Beruhigungsmittel. Mit Eschschol(t)z untersuchte Chamisso den Generationswechsel der Salpen (Seescheiden) und die Entstehung der Korallenriffe. Noch hielt er die Zeit einer Theorie der Evolution der "Metamorphosler" für nicht gekommen.

Im Sinne Alexander von Humboldts verband Chamisso Naturforschung mit menschlicher Teilnahme an Leben und Denken der "Naturvölker"."Die Reise um die Welt" (1836) gewährt Einblick in die Schattenseiten der kapitalistischen Weltordnung. Die spanischen Inselnamen Vittoria und Matanza etwa bezeichneten ihm "das Schicksal der eingeborenen Völker: Sieg und Gemetzel". Den Anblick schwarzer Sklaven in Brasilien empfand er "peinvoll und niederbeugend", und über das polynesische Volk: "Wir haben Hab- und Gewinnsucht ihm eingeimpft und die Scham von ihm abgestreift." Er deutet Gräueltaten der Russisch-Amerikanischen Compagnie gegenüber den Alëuten an, denen sein "gekränktes Gefühl und Erbarmen" galten; er sah den Untergang dieser "harmlosen, armseligen Sklaven" kommen. Ein russischer Offizier habe seine Truppe veranlasst, die Durchschlagkraft ihrer Gewehre an hintereinander aufgestellten Ureinwohnern zu erproben. Mit dem Blick auf die nordamerikanischen Indianer hielt er die "Rede des alten Kriegers Bunte Schlange im Rate der Creek-Indianer" fest, Anklage des Verrats des "großen Vaters" (Präsident Andrew Jackson) an seinen "roten Kindern". Mit Kadu von der Südseeinsel Radak (Karolinen) fand er einen Assistenten von "unbegrenzter Wißbegierde", der ihn zu den Inseln der Beringstraße begleitete und zum Freund wurde. Nebenbei: Den Namen für die warme Kapuzenjacke Parka brachte er von den Tschuktschen mit, und für die Sprachen Polynesiens leistete er Pionierarbeit. Mit seinen Balladen ("Die Löwenbraut", "Die Kreuzschau","Salas y Gomez") blieb Chamisso noch lange in den Lesebüchern präsent; noch kennt man "Frauen-Liebe und - Leben" dank Schumanns und Löwes Vertonungen. Eine Zeile daraus ist zum scherzhaft gebrauchten geflügelten Wort geworden: "Er, der Herrlichste von allen". Der aus Vaterland und Adelstand Vertriebene hegte keine Ressentiments - im Blick auf das geschleifte Ahnenschloss Boncourt segnete er die Hand, die "den Pflug über dich führt".

Wegbereiter politischer Lyrik

Wie Goethe übersetzte er Manzonis Ode auf Napoleons Tod (auf der Weltreise hatten englische Kanonenkugeln dem Rurik die Zufahrt nach St. Helena verwehrt). "Das Dampfroß", die Eisenbahn als Wortschöpfung Chamissos für moderne Siebenmeilenstiefel, ließ ihn im Spiel mit der Datumsgrenze vor und zurück in Zeit und Raum reisen. "Unaufhaltsam, unablässig, allgewaltig naht die Zeit", kündete "Der alte Sänger" gegen die Reaktion, gemeinsam mit Freund Uhland ("Des Sängers Fluch"). Das zornige Gedicht "Der Invalid im Irrenhaus", ein Veteran der Völkerschlacht von "Leipzig! Leipzig! arger Boden", schreit "wütend nach Freiheit, nach dem bluterkauften Glück", doch er wird vom "Wächter mit der Peitsche in schnöde Ruh" gebannt. Das "Riesen-Spielzeug", eine Sage von Burg Ni(e)deck im Elsass, fordert Befreiung der Bauernschaft: "Der Bauer ist kein Spielzeug, da sei uns Gott davor!" Chamisso war Wegbereiter der politischen und sozialen Lyrik. Im Anschluss an den Chansonier Béranger beschwor er die 1830 wiederkehrende Revolution. Marcel Reich-Ranicki hat immerhin "Die alte Waschfrau" in seine Anthologie herübergerettet. Chamisso war ein kritischer Beobachter der "schweren Not der Zeit" (Kanon), hier konkret helfend: Es handelte sich um eine Spendensammlung für die verarmte ,Mutter Schulz'; das Flugblattgedicht brachte ihr immerhin eine Altersversorgung von 150 Reichstalern.

Der französische Literaturkritiker Jean-Jacques Ampère, ein Sohn des Physikers, lernte Chamisso 1827 kennen -"ein vom Schicksal lange verfolgter Mann, ein französischer Emigrant und ein preußischer Offizier, ein Edelmann und ein Liberaler, ein Dichter und ein Botaniker, der Autor eines phantastischen Romans und ein Weltumsegler, es war ein Deutscher und doch ein geborener Franzose; kurz es war Chamisso." - An diesen 1838 gestorbenen Weltbürger kommender Zeiten erinnert seit 1985 der Chamisso-Preis, für Schriftsteller nichtdeutscher Muttersprache, die in deutscher Sprache schreiben

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