Schlesierland ist abgebrannt

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Ulrike Draesner entwirft in "Sieben Sprünge vom Rand der Welt" anhand der Biografie ihres Protagonisten ein Abbild des 20. Jahrhunderts.

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Ulrike Draesner entwirft in "Sieben Sprünge vom Rand der Welt" anhand der Biografie ihres Protagonisten ein Abbild des 20. Jahrhunderts.

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Als W. G. Sebald 1997 in seiner Zürcher Poetikvorlesung die These vertrat, dass der Luftkrieg gegen die deutsche Zivilbevölkerung während des Zweiten Weltkrieges in der Literatur ausgeblendet wurde und auch keinen Eingang ins kollektive Gedächtnis der Deutschen gefunden habe, entspann sich rasch eine äußerst emotional geführte Debatte um das Recht der Täternation, sich selbst auch als Opfer zu erinnern. Deutsche Erinnerungsarbeit ist problematisch und krisenhaft, das zeigt dieses Beispiel, und sie erfährt gerade einen generationellen Wandel.

Seit Ende der 1990er-Jahre hat der deutsche Familien- und Erinnerungsroman Hochkonjunktur, was die Notwendigkeit einer Neukonsolidierung der kollektiven Gedächtniskultur bezeugt. In den letzten Jahren wird dabei vermehrt das Erinnern selbst zum Sujet, man denke nur an Tanja Dückers "Himmelskörper" (2003), Stephan Wackwitz' "Ein unsichtbares Land" (2003) oder auch Arno Geigers "Es geht uns gut"(2005). Ulrike Draesners neuer Roman "Sieben Sprünge vom Rand der Welt" liest sich wie eine Literatur gewordene Studie von Kulturwissenschaftlerin und Erinnerungsexpertin Aleida Assmann. Es findet sich alles darin, was Assmann in ihrer Forschung zum kulturellen und generationellen Gedächtnis beschrieben hat: Die unbewusste Übertragung von Traumata von einer Generation auf die nächste, die Unstimmigkeiten, die durch die altersbedingt unterschiedliche historische Position zum Dritten Reich entstehen, die Unfähigkeit das erlebte Grauen in Sprache zu übersetzen und damit anderen verständlich zu machen. Für Assmann ist die Familie "eine Kontaktzone in der Zeit", sie stellt "die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen" her. Besser kann man Draesners Romankonzept kaum beschreiben. Neun Stimmen aus vier unterschiedlichen Generationen kommen zu Wort. Im Zentrum steht der 1930 geborene Verhaltensforscher und Affenforscher Eustachius Grolmann, dessen Leben aus den unterschiedlichen Blickwinkeln mehrerer Ich-Erzähler beleuchtet wird, ein Konzept, das man von Eva Menasses "Quasikristalle" (2013) kennt. Unter den anderen Stimmen finden sich unter anderem beide Eltern, die Tochter und die Enkeltochter.

Die Frage nach dem Wert des Lebens

So entwickelt sich kaleidoskopartig ein Bild von der Biografie des Sohnes, Vaters, Bruders und Großvaters Eustachius. Sein Leben dient als Abbild der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert: In Schlesien geboren als jüngerer Bruder des behinderten Emil, die Eltern in ständiger Angst, ein schmaler Grad trennt das lebenswerte Leben vom unlebenswerten in dieser Zeit. Während der Vater an der Front kämpft, muss Eustachius als Kind mit der Mutter Lilly und Emil fliehen. Nach dem Krieg und der Zwangsmigration folgt der Versuch, in einer völlig neuen Umgebung wieder ein Leben aufzubauen. Wie in Sebalds großem Roman "Austerlitz" (2001) schreibt sich auch hier der Erinnerungsdiskurs in die Struktur des Textes selbst ein. Erinnerung ist fragmentarisch und konstruiert. Sie ist niemals rein individuell, sondern speist sich aus eigenem und fremdem Erleben, aus Fiktionen und Berichten, ein dynamisches, kulturell geprägtes Gewebe, das sich beständig neu schreibt. "Woran ich mich erinnerte, hatte ich gesehen, doch so? Bei diesem Schanzeinsatz? Überall hatte es Gräben, Bäume, Faschinen gegeben, überall hatten wir gegraben, uns in Deckung geworfen, vielleicht hatte ich es auch später gelesen oder erzählt bekommen von jemandem, der glaubte, wie ich jetzt glaubte, es erlebt zu haben. Das war kein Widerspruch." Für Eustachius' Vater Hannes verschmilzt die Erinnerung zu "Gerinnungen aus vier Jahren und neuneinhalb Monaten Krieg, Verklumpungen des Gedächtnisses, Gerinnsel."

Lilly hingegen führt einen Schmerzensmonolog, der ein wenig an den Kriegsheimkehrer Septimus in Virginias Woolfs grandiosem Roman "Mrs. Dalloway" erinnert. Der Verlust des Sohnes Emil raubt der Sprache ihre Struktur, zersetzt die Syntax als Zeichen für ihre Entfremdung, für Erfahrungen, die sich nicht mitteilen lassen. Es sind auch die poetischsten Passagen des Romans, in denen die Lyrikerin Draesner spürbar wird. Flott dahin erzählt hingegen die Enkelin Esther, die Eustachius mit liebevolleren Augen zu betrachten imstande ist als ihre Mutter. Erstaunlich und beeindruckend, wie sich der vielstimmige Chor ineinanderfügt, ohne künstlich miteinander zu verschmelzen oder schiefe Töne zu produzieren.

Die Frage nach dem Wert des Lebens wird in der Grollmann'schen Forschung zum Sozialverhalten der Affen fortgeführt. Was unterscheidet den Menschen vom Tier? Ausgerechnet die Erkenntnis, dass auch Affen Kriege führen und ihresgleichen, sogar Babys töten, verstört Eustachius, der zu den Affen mehr Zuneigung erkennen lässt, als zum verlorenen Bruder, sinnigerweise auch Aff genannt, oder seiner Tochter. Der Begriff der Menschlichkeit hat für den Flüchtling Eustachius einen schalen Beigeschmack - das Böse will er in seinen geliebten Tieren nicht erkennen.

Shared-memory-Projekt

Eustachius selbst nimmt an einer Studie teil, die sich mit im Kindesalter Vertriebenen beschäftigt. Auch Draesner beschränkt sich nicht auf den Roman, sondern hat ein shared-memory-Projekt initiiert, das auf der Internetseite www.der-siebte-sprung.de nachzuvollziehen ist. Dort beschreibt die Autorin nicht nur die Entstehungsgeschichte des Romans, stellt Dokumente ihrer intensiven Recherchen online und liefert Hintergrundinformationen über die Affenforschung, sie tritt auch in Dialog mit den Rezipienten. Unter dem Punkt "Selbst-Erzählen" können eigene Erinnerungen geteilt oder Stellung zum Buch genommen werden. Gleichzeitig ist der Text ein sehr persönliches Erinnerungsprojekt, schreibt Draesner doch ihre eigene Familiengeschichte - ein schwieriges Unterfangen, wie sie in ihrem Essay auf der Homepage mitteilt: "Noch einmal versuchte ich, mich vor dem Roman in Sicherheit zu bringen. Ich wiederholte die Geste meines Vaters: ich floh vor der Flucht - und unterschrieb einen Verlagsvertrag für einen anderen Roman." Schön, dass Ulrike Draesner es sich anders überlegt hat.

Sieben Sprünge vom Rand der Welt

Von Ulrike Draesner, Luchterhand 2014.560 Seiten, gebunden, € 22,70

WEITERE BÜCHER

Gedichte

Am 3. November erschien bei Luchterhand der neue Gedichtband "subsong" von Ulrike Draesner. Der Titel bezieht sich auf den Plaudergesang von Vögeln. "Subsong ist: Melodie hinter der Melodie, Melodie in Teilen, im Aufbau, auf dem Weg zu etwas Neuem. Halb Rauschen, halb Freude."

Essays

In "Heimliche Helden"(Luchterhand 2013) präsentiert Ulrike Draesner ihre Leseabenteuer mit den Werken von männlichen Autoren, darunter Heinrich von Kleist, Thomas Mann, Karl Valentin, James Joyce.

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