Schlüpfriges Blutbad

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Elfriede Jelineks "Babel", am Wiener Akademietheater uraufgeführt.

Sehr geehrter Mann, sehr geehrter Frau, Sie haben ein Immunsystem, das ist wie ein Instrument." Es ist das System der inneren Defizite und ihrer Konsequenzen, von dem Elfriede Jelineks Text-Trickkiste "Babel" ausgeht. In dieser hochkomplexen Wortflut montierter Mythen, aktueller Kriegsberichterstattung und der Hommage an drei große Darsteller des Deutschen Kinos der Nachkriegsjahre - Irm Hermann, Margit Carstensen und Peter Kern - zieht Jelinek geistige Bilanz über die Nachkriegszeit. Durch den Filter der Künstlichkeit nähert sich die Autorin in drei Monologblöcken ihrer jüngsten Variation der Themen Pornografie, Medienkritik und Irak-Krieg. Ihr Prinzip des "cut and paste" treibt sie dabei auf ungeahnte Spitzen, überblendet die eigenen Intertextualisierungen und wälzt ihre Sprache durch das mediale Chaos, bis endlich verborgene Motive zum Vorschein treten.

Die Geschichte vom Kampf des Marsyas, der das Instrument der Flöte zu Apolls Leierspiel in Konkurrenz stellt - dionysische Emphase versus apollinische Ratio -, die Vorherrschaft des Bildes über das Wort und der Verlust der Aufklärung sind Puzzle-Teile von Jelineks neuestem Versatz-Stück. Erstaunlich ist dabei, wie sie ihre Inhalte zur Form erklärt und den Zuseher auf die Folter spannt, indem sie ihn mit der eigenen Sensationslust konfrontiert.

In Nicolas Stemann hat die Nobelpreisträgerin (die bei der Uraufführung nicht anwesend war) einen kongenialen Regisseur gefunden, wenn auch der zweite Teil seiner Trilogie "Wohlstand in Gefahr" an seine preisgekrönte "Werk"-Inszenierung nicht herankommt. Stemann nimmt Jelinek beim Wort, auch er macht sich die Erwartungshaltung des Zuschauers zu Nutze: Eine Lichtinstallation täuscht das Aufgehen des Vorhangs vor, ja, gleich starten wir, gleich wird die Neugierde befriedigt, aber die Lichtregie verfälscht den Blick noch einmal, bis endlich ein putziges Frosch-Puppentheater mit einem Kannibalismus-Spektakel eröffnet.

Barbara Petritsch mit ihrem unprätentiösen, echten Ton durchbricht den Spielzeugkrieg, sie steht für das Bild der Mutter der erlösungssüchtigen Märtyrer. Petritsch bewegt sich sicher und völlig natürlich durch die Jelinek'schen Zitat-Kaskaden der Gotteskrieger beider Seiten. Wer Jelinek Blasphemie vorwirft, der unterliegt einer verkürzten Sichtweise. Was tatsächlich verstört, ist die Radikalität ihrer Entlarvungsmaßnahmen, Gott als Vernebelungsinstrument einer hoch komplexen Verstrickung von Macht, Sexualität und Religion zu zeigen.

Diese unfassbare Brutalität illustriert Stemanns Szenarium mit Trivialinszenierungen bis an die Grenzen der Geschmacklosigkeit. Eine Familie im Irak, die Mutter schickt ihre drei Söhne in den Heldentod: eine Sitcom "Die Jelineks". Die österreichische Geschichtsschreibung: eine einzige Obszönität, in ihrer Schamlosigkeit meisterhaft dargestellt von Myriam Schröder. Daneben Sachiko Hara als asiatische Kannibalin, Markus Hering, Philipp Hauß und Philipp Hochmair als die drei Peter neben Hermann Scheidleder als gehäuteter Marsyas am Brückengeländer von Falluja hängend. Seine Monolog-Kanonaden schießt er im Flöten-Gewitter gegen Apoll (Rudolf Melichar), mit dem grellen Licht der Scheinwerfer straft er den Alltagsvoyeurismus.

"Babel", ein schlüpfriges Blutbad (Bühne: Katrin Nottrodt), ein permanenter Folterakt, ein Angriff auf unser Trommelfell, unsere Netzhaut. Bilder, die das Premierenpublikum von heute nicht mehr aufregen, wenn auch ein Maß an Verwüstung nicht zu übersehen war.

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