Schmerz, voll verkörpert im Schönen

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Das Werk der mexikanischen Malerin Frida Kahlo ist ein großer Selbstheilungsversuch: Es verdeutlicht, dass durch Kunst selbst qualvollen Erfahrungen Lebenskräfte abzutrotzen sind - und was Ästhetik für die Therapie leisten kann.

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Das Werk der mexikanischen Malerin Frida Kahlo ist ein großer Selbstheilungsversuch: Es verdeutlicht, dass durch Kunst selbst qualvollen Erfahrungen Lebenskräfte abzutrotzen sind - und was Ästhetik für die Therapie leisten kann.

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Im Schmerz dringt die Welt über den Körper ein und droht die Existenz des Einzelnen zu überwältigen. Die Weltbezüge schrumpfen zusammen. Der Betroffene erfährt unmittelbar ein gestörtes Verhältnis zur Welt, zu wichtigen Beziehungen, zum Sinn des Lebens, zu sich selbst. Der Schmerz lähmt zunächst Handeln, Denken und Fühlen, und ist daher weit mehr als ein biologisches Warnsignal. Schmerz ist nicht zuletzt ein Schlüsselphänomen zum Verständnis grundlegender Fragen des Menschseins: die Affekte, die Wahrnehmung oder das Erkennen, das Verhältnis von Leib, Seele und Geist.

Ästhetik als therapeutische Kraft ist nicht nur die Lehre vom oberflächlich Schönen. Hier geht es um die Gestaltung von Beziehung und Existenz, um einen Kontrapunkt gegen Absurdität, um Wege, angesichts der Drohung des Todes das Leben zu steigern und zu meistern. Die Künstlerin Frida Kahlo (1907-1954) hat vorgelebt, wie sie sich im schöpferischen Akt ihre Leiblichkeit, Sexualität und ihren sinnlichen Lebensgenuss trotz beschädigter Gesundheit zurückerobert hat. Als 18-Jährige erlitt die deutschstämmige Mexikanerin einen Unfall mit jahrzehntelangen Folgeerkrankungen und Schmerzen, die von der schweren Verletzung des Beckens und der Wirbelsäule ausstrahlten. Brutal war sie ihrer Jugend entrissen worden. Hinzu kamen Fehlgeburten und die Verletzungen ihres notorisch untreuen Ehemannes Diego de Rivera. Schmerz zusammen mit dionysischem Lebenshunger prägen ihr Leben und Werk. Verwundung und Schönheit, Gewalt und Grausamkeit, Liebe und Tod variiert sie um ihr zentrales Thema: die Schöpfung ihrer selbst. Dem Qualvollen in ihrem Leben ringt sie ästhetische Form ab. Als Selbstheilungsversuch ist ihr Werk zugleich Botschaft, Anklage, Werbung um ihren Mann, Verführung, sowie eine Rebellion gegen die tragische Beschränkung durch Krankheit.

Kunst als erotisches Manifest

Der Philosoph Friedrich Nietzsche sah es als höchsten Sinn des künstlerischen Schaffens an, individuelle und kollektive Lebenskraft zu entfachen: Die ästhetische Darstellung des Schmerzlichen und Hässlichen fördere die Chance, durch künstlerische Freiheit auch den bedrohlichen und beängstigenden Phänomen unseres Daseins Entwicklungskräfte abzutrotzen. In diesem Sinn leistet Kunst einen Beitrag zur Gesundheit und Therapie, hier zur Schmerztherapie. Es lohnt sich, das Phänomen Frida Kahlo aus dem Blickwinkel der Salutogenese zu betrachten, also der "Gesundheitsentstehung": Das heißt es interessiert weniger, wie viel Krankheit hier zu finden ist, als vielmehr ihr Potenzial an Gesundheit und Vitalität. Schließlich konnte sie Kreativität und Lebensintensität verwirklichen - trotz überdurchschnittlich belastender Prägungen ihrer Biografie. Kahlos Kunst ist auch ein erotisches Manifest. Selbst als körperlich Behinderte und mehrfach Operierte wollte sie leidenschaftliche Liebhaberin und schöne, begehrte Geliebte sein.

Die ergreifenden Dokumente rund um den Unfall zeigen ein körperlich wie seelisch schwer getroffenes Kind, dem das Schicksal übel mitgespielt hat. Frida Kahlo fand trotzdem genügend Kraft, um sich für einige Zeit dem Leben voll zuzuwenden. Wegen immer wiederkehrender starker Schmerzen musste sie sich mehrfach an der Wirbelsäule operieren lassen und einer Reihe von Behandlungen unterziehen, mit Korsett und Traktionen. Ihr Korsett bemalte sie im Krankenbett. Da sie sich dazu nicht aufsetzen durfte, nahm sie einen Spiegel zu Hilfe, um erkennen zu können, was sie tat.

Oberflächlich betrachtet könnten ihre Schmerzen an Rücken und Beinen als "rein organisch" klassifiziert werden. Aber gerade hier liegt ein eindrucksvolles Beispiel vor, wie auch schmerzhafte Erfahrungen und existenzielle Tragik in diese posttraumatischen Schmerzen einfließen und diese noch verstärken. Körperliche und seelische Schmerzen sind hier nicht mehr zu trennen: ein Phänomen, das die moderne Neurologie bestätigt. Denn unser Gehirn unterscheidet nicht zwischen körperlichen, psychischen oder sozial bedingten Schmerzen.

Kahlos Schmerzattacken sind eingebettet in eine Reihe schmerzlicher Liebeserfahrungen mit Diego de Rivera. Es war eine Beziehung, die sie trotz wiederholter Demütigungen nicht aufgeben konnte oder wollte. Auch nicht wegen seiner mangelnden Fürsorge und seiner beschränkten Fähigkeit zu wirklicher Nähe. In Bildern und Tagebucheintragungen hält sie an der Liebe zu dem prominenten Maler fest, der um 20 Jahre älter als sie ist. Sie wirbt, klagt an, schimpft, verklärt, und kommt doch wieder zu sich selbst zurück. Sie gibt nicht auf, ihre Liebe und Enttäuschung, ihre Sehnsucht und Verzweiflung zu gestalten.

Die Tagebuchseite von 1953, ein Jahr vor ihrem frühen Tod mit 47 Jahren, trägt den Titel "La Paloma"(Die Taube). Sie zeigt eine kopflose Cyber-Figur, mit viel zu kleinen Flügeln anstelle der Arme und mit einen Körper, der mit einem weiten Band zusammengehalten wird. Das linke Bein ist mit einer dünnen Spiralkordel umwickelt; sie erinnert an eine Nabelschnur. Anstelle des Kopfes sitzt eine Taube auf dem Rumpf. Im Kommentar schreibt sie: "Die Taube hat sich geirrt. Sie irrte. Anstatt nach Norden ging sie nach dem Süden, sie hielt den Weizen für Wasser, sie irrte ". Die Jahre zuvor wollte sie ein Kind, erlitt aber mehrere Fehlgeburten. Es ist unklar, ob diese mit der schweren Beckenverletzung zusammenhingen oder mit ihrem teils exzessiven Alkoholkonsum, mit dem sie sich gegenüber seelischem und körperlichem Leiden betäubte.

Tiefes Leiden und höchstes Glück

Der Kampf gegen die Einengung ihres Lebens hielt an. Sie inszenierte weiter ihre Erotik und Schönheit, einschließlich der krankheitsbedingten Brechungen. Ihr Bild "Zerbrochene Wirbelsäule" (1944; s. links) zeigt einen gespaltenen Thorax, statt der normalen Wirbelsäule ist eine gebrochene Tempelsäule dargestellt. Hier wird auch daran erinnert, dass die Künstlerin seit Geburt an einer Fehlbildung der Wirbelsäule (Spina bifida) litt - gefolgt von der Deformität eines Beines, die sie später an den Rollstuhl fesselte und schließlich zur Amputation zwang. Die Künstlerin stellt sich mit entblößten Brüsten dar. Die Haut ist mit zahlreichen Nägeln durchbohrt, eine Metapher für Diegos Quälereien und die Missachtung ihrer Verletzlichkeit. Trotz ihrer Entstellung hält sie an der Gestaltung des Schönen fest.

Mit Kahlos Werk findet eine sehr persönliche Schmerzdarstellung Eingang in die Kunstgeschichte, authentisch und bodenständig: Sie kreist um die Situation der Frau, um Sexualität, Fruchtbarkeit und die erotische Inszenierung des weiblichen Körpers. Zugleich vermittelt ihr Schaffen den Blick einer nicht nur christlich geprägten Kultur, in der archaische Topoi der Bewältigung von Schmerz, Leid und Tod fortbestehen. Häufig erwähnt Kahlo den "Kahlen", wie der Tod spöttisch in der mexikanischen Folklore genannt wird.

In ihrem Werk sind tiefes Leiden und höchstes Glück eng beisammen, ebenso die zerstörerischen und die kreativen Kräfte von Leidenschaft und Gefühl. Genauer gesagt: In ihrer Kunst haben diese Widersprüche ihres Lebens eine ästhetische Heimat gefunden. Kahlos Malerei ist ständige Mitteilung von sich selbst, ohne Rücksicht auf Scham, Ekel oder Angst, teils mit feiner Selbstironie und Humor. Ihre Kunst hilft dabei, sich auch für die hässlichen Seiten unseres Daseins zu öffnen: im aufrichtigen Ringen um ein erfülltes Leben, trotz Enttäuschung und Verletzung, die Schönheit zu gestalten und sogar mit rauschhaften Augenblicken des Glücks zu überhöhen.

Im Umgang mit Schmerz und Leiden war Kahlo - zumindest über viele Jahre - gesund im Sinne einer "großen Gesundheit" der Lebensbejahung. Ihr Werk ist dazu geeignet, beim Betrachter Kräfte der Überwindung und des Zu-sich-Kommens zu entfachen. Es vermittelt angewandte Lebensästhetik im Sinne "ästhetischer Therapeutik" - und ist somit eine wichtige Inspiration für die moderne Therapie chronischer Schmerzen.

Der Autor ist Chefarzt für Psychosomatik am Helios Klinikum Behring in Berlin

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