Schnelle Straßen, tote Dörfer

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Über den Niedergang des ländlichen Raums und Möglichkeiten gegenzusteuern.

Noch in den 1950er Jahren", rechnet Professor Hermann Knoflacher vor, "bot die lokale und regionale Wirtschaft fast allen im Dorf Arbeit. 25 Jahre später gab es in niederösterreichischen Gemeinden mit 2.000 Einwohnern so gut wie keinen einzigen Arbeitsplatz mehr." Wirtschaftsförderung erfolgte in den peripheren Regionen Österreichs nicht durch die Stärkung dezentraler Strukturen, kritisiert der Verkehrswissenschafter von der TU Wien, sondern nach dem schlichten Rezept: Der Staat baut schnelle Straßen aufs Land, die Menschen kaufen sich Autos - und liefern sich selbst den Arbeitsplätzen in den Städten zu. Dass damit nicht nur der neue Berufszweig des Pendlers geschaffen wurde, sondern durch die große Mobilität nahezu alle Funktionen aus den Dörfern abgezogen wurden, hat die österreichische Politik laut Knoflacher "dabei leider übersehen".

Ein Beispiel dafür ist der Niedergang der örtlichen Nahversorgung: Menschen, die täglich in die Stadt zur Arbeit fahren, erledigen ihre Einkäufe eher in den günstigeren Supermärkten am Heimweg als beim Kaufmann im Ort. Dies führte binnen weniger Jahre zu einem flächendeckenden Händlersterben in ländlichen Gemeinden. Für die Pendler selbst mag dies vielleicht unangenehm sein, wenn es darum geht, schnell einen Liter Milch zu kaufen. Jenen Bevölkerungsgruppen aber, die oft über kein Auto verfügen - Kindern und Jugendlichen, Hausfrauen, älteren oder in ihrer Mobilität eingeschränkten Menschen - wurde damit die Grundversorgung entzogen.

Kein Leben ohne Auto

Das Pendlerwesen hatte ebensolche Folgen für die dörfliche Gesellschaft. Wer die ganze Woche über in der Stadt arbeitet, verliert irgendwann den Kontakt zur Gemeinschaft im Ort. Darunter leiden die Vereine, darunter leidet die regionale Kultur, darunter leidet die Gastronomie. So verwundert es nicht, dass abgeschiedene Regionen seit Jahrzehnten vor allem von der Abwanderung junger Menschen betroffen sind, was die Verödung der Dörfer noch weiter vorantreibt. Gasthäuser, und Kindergärten schließen, in den Kirchen findet nur mehr alle paar Wochen eine Messe statt, und der nächste Arzt findet sich erst zwei Gemeinden weiter.

Der Teufelskreis des Niedergangs im ländlichen Raum erfasste nahezu alle Bereiche. Durch das Auspendeln vor allem qualifizierter Arbeitskräfte wurden den meisten peripheren Wirtschaftsräumen Dynamik und Innovationspotenzial entzogen. Das daraus resultierende Absterben lokaler Gewerbebetriebe hat zur Folge, dass die Gemeinden kaum noch Steuereinnahmen haben. Und die staatlichen Zuwendungen im Rahmen des Finanzausgleichs sinken mit der Zahl der Einwohner. Die Kommunen sind also immer weniger in der Lage, ihre Entwicklung aus eigener Kraft zu steuern.

Die Ausdünnung der Peripherie führt auch dazu, dass die Auslastung der öffentlichen Verkehrsmittel beständig sinkt. Die Verkehrsträger reagieren darauf mit einer Ausdünnung des Angebots, was die Attraktivität von Bus und Bahn noch weiter reduziert - und vor allem wieder jene trifft, die über kein Auto verfügen. Verspätete Interventionen seitens der öffentlichen Hand, um die Talfahrt des ländlichen Raums zu stoppen - wie etwa die Förderung von Betriebsansiedlungen -, sind mehrheitlich gescheitert, da dadurch nur selten eigenständige Wirtschaftskreisläufe in Gang gesetzt wurden.

Dorferneuerung

Dennoch gibt es auch erfolgreiche Ansätze, die peripheren Regionen eine bessere Zukunft versprechen - einer davon ist die Dorferneuerung. Ziel dieses komplexen Instruments der Raumplanung ist die wirtschaftliche, gestalterische, aber auch soziale und kulturelle Wiederbelebung von Ortschaften aus eigener Kraft. "Wichtig ist, dass sich die Leute wieder trauen, die Entwicklung ihres Lebensraums selbst in die Hand nehmen. Unterstützen braucht man sie nur darin, ihre Visionen umzusetzen", bringt der Raumplaner Hannes Weitschacher das Wesen der Dorferneuerung auf den Punkt.

Weitschacher ist seit 1990 im nördlichen Niederösterreich, genauer im Retzer Land tätig. Damals darbte die Region vor sich hin, gezeichnet von 40 Jahren Grenzlage am "Eisernen Vorhang". Der Ort Obermarkersdorf etwa hatte in den 1980er Jahren das Stigma der ärmsten Ortschaft Österreichs. Und er gilt heute als Musterbeispiel dafür, wie eine Gemeinde durch das Engagement ihrer Bewohner sowie geringfügige öffentliche Förderungen innerhalb kurzer Zeit zu neuer Blüte gelangen kann. Auch wenn damit nicht alle substanziellen Probleme des ländlichen Raums gelöst werden.

Beispiel Obermarkersdorf

Als Startprojekt gestalteten die Obermarkersdorfer Anfang der 90er Jahre in freiwilliger Arbeit ihren Kirchenplatz neu. Es folgten weitere Umgestaltungen im Straßenraum - etwa der Rückbau großer Asphaltflächen, die Sicherung wertvoller Grünelemente sowie die Schaffung kleiner Kommunikationsplätze im öffentlichen Raum. Parallel dazu erneuerten zahlreiche Bewohner ihre Häuser mit der gebotenen Sensibilität. Schließlich gelang die gemeinschaftliche Sanierung des verfallenen Rathauses, das heute für die Ortsverwaltung, den Kindergarten sowie für örtliche Veranstaltungen Platz bietet.

Am Ortsrand wurden - ebenfalls in unentgeltlicher Arbeit - ein kommunales Heizkraftwerk samt Solaranlage zur Energie- und Warmwasserversorgung für ganz Obermarkersdorf errichtet. Der Rohstoff für die Hackschnitzelheizung stammt aus Wäldern der örtlichen Bauern und verhilft ihnen zu einem zusätzlichen Einkommen. Dezentrale Strukturen, regionale Wirtschaftskreisläufe, autarke Energieversorgung sowie ökologische Verträglichkeit heißen die Kriterien, nach denen Obermarkersdorf seine künftige Entwicklung ausrichten will.

"Dorferneuerungsprojekte haben eine große Chance auf Realisierung und Nachhaltigkeit, wenn die Bewohner dabei eigene Ideen selbst verwirklichen können", streicht Hannes Weitschacher den hohen Wirkungsgrad dieses sanften Förderinstruments heraus. Denn Obermarkersdorf ist kein Einzelfall im nördlichen Weinviertel. In Retzbach etwa entstand im Zuge der Dorferneuerung ein Kulturkeller. Hier können die Weinbauern der Gemeinde in einer gemeinsamen Vinothek ihre Produkte präsentieren und verkaufen. Der Keller bietet - als ideale Ergänzung zu den qualitätvollen Weinen - auch Raum für Feste, Konzerte und Kunstveranstaltungen und stellt damit einen wichtigen Beitrag zur sozialen und kulturellen Dorferneuerung dar.

Andere Projekte wurden mittlerweile auch schon gemeindeübergreifend realisiert - etwa das alljährliche "Kürbisfest" im Retzer Land. Dabei geht es nicht nur darum, an einem Wochenende während der Kürbisernte bis zu 60.000 Besucher in die Region zu locken, die hier essen, trinken, einkaufen und übernachten. Mit dem Kürbisfest hat sich das Retzer Land einen Namen, ein neues Image verschafft. Dies ist wichtig für das Selbstbewusstsein der Menschen und zeigt auch Perspektiven auf, um aus den regionalen Produkten das ganze Jahr über Wertschöpfung zu ziehen. Ein Landwirt hat es bereits geschafft, eine Großhandelskette exklusiv mit Kürbissen aus dem Retzer Land zu beliefern. Und die Winzer der Region vermarkten, aufbauend auf der Popularität des Fests, ihre Weine nun gemeinsam unter neuem Namen.

Wirtschaftskraft gewinnen

Die Verbindung von sanftem Tourismus und gewinnbringender Direktvermarktung hochwertiger Agrarprodukte ist eine der zukunftsträchtigen Strategien für das wirtschaftliche Gedeihen peripherer Regionen. Zählbare Erfolge sind dabei allerdings nur durch Zusammenarbeit möglich. Sechs Gemeinden des Retzer Landes sowie Kleinunternehmer aus Landwirtschaft, Handel und Tourismus haben sich mittlerweile zusammengeschlossen, um gemeinsam am Markt aufzutreten - und sich dafür auch ein professionelles Management leisten zu können.

Je mehr der ländliche Raum an wirtschaftlicher Eigenständigkeit zurückgewinnt, um so eher kann er den negativen Effekten der nach wie vor fortschreitenden Zentralisierung entgegenwirken. Denn der "Kahlschlag" in der Peripherie ist, wie Hermann Knoflacher zu bedenken gibt, noch nicht vorüber: "Anstatt die Landgemeinden endlich in ihrer Existenz zu sichern, schwächt die öffentliche Hand sie mit Einsparungen noch weiter. Die Auflassung von Postämtern, Gendarmerieposten, Bezirksgerichten oder Niederlassungen der Bauernkammer verschärft nicht nur die strukturellen Defizite, sie kostet auch jede Menge Arbeitsplätze." Und davon gibt es in Gegenden wie dem nördlichen Weinviertel nach wie vor viel zu wenige.

Der Autor ist Raumplaner, Filmemacher und Fachpublizist.

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