"Schockierend, wie wir sie behandeln"

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Mit seinem Werk zur "Befreiung der Tiere" erlangte Peter Singer vor 40 Jahren erstmals große Beachtung. Ein steter Impulsgeber im Gespräch. | Das Gespräch führte Martin Tauss

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Mit seinem Werk zur "Befreiung der Tiere" erlangte Peter Singer vor 40 Jahren erstmals große Beachtung. Ein steter Impulsgeber im Gespräch. | Das Gespräch führte Martin Tauss

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Der Rückblick auf vier Jahrzehnte "Animal Liberation" war Anlass für ein Symposium im Naturhistorischen Museum Wien, bei dem der australische Philosoph über seinen Kampf gegen den "Speziesismus" sprach - der Missachtung und Diskriminierung nicht-menschlicher Lebewesen. Am 28.6. wird Singer im Wien Museum Karlsplatz über das Schicksal seines Wiener Großvaters David Oppenheim diskutieren, der 1943 im KZ ermordet wurde und dem er ein berührendes Buch gewidmet hat ("Mein Großvater. Die Tragödie der Juden von Wien", Europa Verlag 2005).

DIE FURCHE: Inwiefern haben Tiere ein Bewusstsein und warum ist das relevant?

Peter Singer: Es gibt kaum Zweifel, dass Säugetiere und Vögel Bewusstsein haben und Schmerzen fühlen können. Viele von ihnen, je nach Spezies, können auch erschreckt, ängstlich, gelangweilt sowie einsam sein und unter der Abwesenheit von nahestehenden Tieren leiden. Sehr wahrscheinlich haben alle Wirbeltiere ein Bewusstsein und können Schmerzen fühlen, einschließlich der Fische. Auch manche wirbellose Tiere wie der Oktopus scheinen bewusste Wesen zu sein. Das ist insofern wichtig, weil Schmerz und Leiden an sich eine üble Sache sind. Das wissen wir aus eigener Erfahrung: Wir versuchen Schmerz zu vermeiden, außer wenn wir glauben, dass es einen kompensierenden Nutzen gibt. Ebenso versuchen wir, andere Menschen vor vermeidbarem Leid zu schonen.

DIE FURCHE: Was verstehen Sie unter der "Befreiung der Tiere"?

Singer: Wir müssen Tiere von der menschlichen Unterdrückung und Ausbeutung befreien: aufhören, sie als Dinge für unseren Gebrauch anzusehen oder als Wesen, deren Leid und Freude stets hinter den unsrigen zu stellen sind. Vielmehr sollten wir ihre Interessen gleich berücksichtigen, wenn wir sie gegen ähnlich gelagerte Interessen unsererseits abwägen. Schmerz der gleichen Intensität ist an sich gleich schlecht -egal ob es der Schmerz eines Menschen ist oder der einer Katze, eines Hundes, einer Kuh oder eines Schweines.

DIE FURCHE: Welchen Fortschritt sehen Sie über die letzten 40 Jahre?

Singer: Drei der schlimmsten Formen von tierischer Gefangenschaft wurden nun in der EU und in manchen anderen Gesetzgebungen verboten, inklusive Kalifornien. Das sind enge Ställe, in denen sich Kälber und Schweine nicht einmal umdrehen können, und die Standard-Batteriekäfige für Hühner. Auch die Kosmetika-Tests an Tieren wurden in der EU verboten; viele große Unternehmen haben diese Tests eingestellt. Die Regelung von Tierversuchen wurde ebenfalls verbessert.

DIE FURCHE: Wie bewerten Sie Tierversuche, die dazu dienen, Medikamente zu entwickeln?

Singer: Das hängt vom Nutzen und den Kosten ab. In manchen Fällen, wenn die Forschung viele Leben retten könnte, wenn zudem das Leid der Tiere minimiert wird und es keine Alternative zur Verwendung fühlender Wesen gibt, könnte das Experiment vertretbar sein. Aber die meisten Tierversuche scheitern daran, den Interessen der Tiere das angemessene Gewicht beizumessen.

DIE FURCHE: Warum halten Sie unsere Sicht auf die Tiere -trotz aller Fortschritte - noch immer für "speziesistisch"?

Singer: Nach wie vor werden Milliarden von Tieren in industriellen Viehzuchtbetrieben unter entsetzlichen Bedingungen gehalten. So sind etwa Hühner gezüchtet worden, die so rasch an Gewicht zulegen, dass ihre unreifen Beine dem nicht gewachsen sind - somit leiden sie unter chronischen Schmerzen. Wirklich schockierend, dass wir fühlende Wesen so behandeln! Um den "Speziesismus" zu beenden, müssen wir noch einen sehr langen Weg zurücklegen.

DIE FURCHE: Was ist die Grundlage für Ihre Ansicht, dass wir Tieren eine gleichwertige Rücksichtnahme auf ihre Interessen schulden?

Singer: Es gibt kein moralisch relevantes Merkmal, das alle Menschen besitzen und das nicht auch irgendein nicht-menschliches Tier innehat. Wir können nicht wie Immanuel Kant sagen, dass nur Wesen mit Selbstbewusstheit einen Zweck an sich selbst haben und andere Wesen nur ein Mittel zu unserem eigenen Zweck sind. Jedes Wesen, das Schmerz fühlen kann, ist ein Zweck an sich selbst. Zudem impliziert Kants Sichtweise, dass intellektuell schwerst beeinträchtigte Menschen ebenfalls nur ein Mittel zu unserem Zweck sind und uns wie Tiere für schmerzhafte oder tödliche Experimente zur Verfügung stehen könnten. Wir sollten diese Sicht zurückweisen. Wir sind nicht berechtigt, eine moralische Grenze um unsere Spezies zu ziehen und zu sagen, dass wir zwar allen Menschen gleichen Respekt und gleiche Rücksichtnahme schulden, nicht aber den nicht-menschlichen Tieren.

DIE FURCHE: Sehen Sie gerechtfertigte ethische Abstufungen innerhalb der Tierwelt - zum Beispiel zwischen einem Menschenaffen und einem Regenwurm?

Singer: Kognitive Fähigkeiten sind relevant, weil sie die Interessen beeinflussen, die menschliche oder nicht-menschliche Wesen haben. Ähnliche Interessen sollten gleichermaßen in Betracht gezogen werden: Das gilt, ob wir nun Menschen oder Schimpansen mit, sagen wir, Hunden, geschweige denn Erdwürmern vergleichen. Das Interesse am Weiterleben hängt etwa von der Art von Leben ab, das man führen kann, und teils auch davon, ob man fähig ist, über seine Zukunft nachzudenken und Pläne zu machen.

DIE FURCHE: Der Theologe Kurt Remele plädiert heute für eine radikale christliche Tierethik und vegane Ernährung. Kämpfen Sie hier an derselben Front wie christliche Ethiker ?

Singer: Es freut mich sehr, dass manche Christen sich nun auch für Tiere einsetzen. Und es war schön zu sehen, dass Papst Franziskus in "Laudato Si" eine Ansicht zurückgewiesen hat, die vor langer Zeit von Thomas von Aquin vorgetragen wurde - dass nämlich unsere "Herrschaft" über die Tiere bedeuten würde, dass wir keine Pflichten gegenüber ihnen hätten. Diese Ansicht hat einen sehr negativen Einfluss auf das katholische Denken über Tiere ausgeübt.

DIE FURCHE: Was halten Sie vom Veganismus?

Singer: Ich stimme damit überein, dass es besser ist, alle tierischen Produkte zu vermeiden. Für Menschen, denen das schwer fällt, sind Eier von frei lebenden Hühnern unter den kommerziell verfügbaren Tierprodukten wohl am ehesten vertretbar.

DIE FURCHE: Brauchen wir auch eine entsprechende "Pflanzenethik"?

Singer: Nein, denn Pflanzen sind nicht fähig, Freude oder Schmerz zu empfinden.

DIE FURCHE: Kommen wir zu Ihrem aktuellen Buch: Darin argumentieren Sie für einen effektiven Altruismus, der vor allem auf Spenden basiert. Aber kommt hier nicht die menschliche Dimension des Helfens zu kurz? Ich denke da an gelebte Qualitäten wie Empathie, Mitgefühl, etc.

Singer: Effektive Altruisten sind oft durch Mitleid und Empathie motiviert. Sie helfen auf vielfältige Weise, nicht nur finanziell. Aber wenn wir spenden, sollten wir es so tun, dass das meiste Gute daraus erwächst. Mitleid und Empathie müssen mit Vernunft und Evidenz zusammenarbeiten, so dass wir wissen, welche Handlungen wirklich den größtmöglichen Unterschied machen: Es wäre falsch, weniger Gutes zu tun, wenn wir mehr davon haben könnten.

DIE FURCHE: Für Armut gibt es doch auch strukturelle Gründe -diese aber werden allein durch Spenden nicht aus der Welt geschafft...

Singer: Effektiver Altruismus unterstützt jene Methode, welche auch immer den größten "Erwartungswert" bietet: Das ist der Wert des Ziels, dividiert durch die Wahrscheinlichkeit, es zu erreichen. Wenn es möglich ist, die strukturellen Probleme zu verändern, oder sogar dann, wenn nur eine vernünftige Chance besteht, werden sich effektive Altruisten dafür engagieren. Niemand sagt, wir müssten hier lediglich an Hilfsorganisationen spenden.

Anmimal Liberation.

Die Befreiung der Tiere.

Von Peter Singer. Harald Fischer Verlag, 2015.332 Seiten, kart., € 19,50

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