Schönheit durch Reduktion

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Mit magischen Bildern erzählt der Niederländer Michael Dudok de Wit in seinem betörenden Animationsfilm "Die rote Schildkröte" ganz ohne Worte eine zeitlose Parabel über das Leben.

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Mit magischen Bildern erzählt der Niederländer Michael Dudok de Wit in seinem betörenden Animationsfilm "Die rote Schildkröte" ganz ohne Worte eine zeitlose Parabel über das Leben.

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Bevor man noch etwas sieht, hört man in diesem ersten vom Westen koproduzierten Animationsfilm des legendären japanischen Ghibli-Studios schon das Pfeifen des Windes. Kommen dann die Bilder dazu, sieht man einen Mann, verloren zwischen übermächtigen grauen Meereswellen verzweifelt um sein Leben kämpfen. Ganz in Grau getaucht ist dieser Auftakt vom tosenden Meer über den grauen Himmel bis zum peitschenden Regen, doch unglaublich reich an unterschiedlichen Grautönen. So entwickelt er gerade durch die Reduktion überwältigende Bildkraft.

Namenlose Identifikationsfigur

Der Schiffbrüchige kann sich auf eine einsame kleine Insel retten, die er bald zu erkunden beginnt. Mehr als einen Berg, ein Wäldchen und eine Quelle gibt es hier nicht, doch zum Überleben reicht es. Kein Wort wird gesprochen und doch wird dieser Namenlose zur starken Identifikationsfigur. Die Zuschauer werden mit seinen Augen die Insel entdecken, die Klaustrophobie und Lebensgefahr hautnah spüren, wenn er in eine Felsspalte stürzt.

Versucht der Mann sich zuerst auf der Insel zurechtzufinden, so wächst bald der Wunsch nach Flucht. Er baut ein Floß, das aber immer wieder kurz nach der Abfahrt von einem unsichtbaren Angreifer zerstört wird. Wut steigt in ihm auf und grausam wird er sich rächen, als er seinen Gegner überwältigen kann. Bald aber erhält er auf wunderbare Weise eine Frau und gründet eine Familie.

Im Grunde erzählt Michael Dudok de Wit, der 2001 einen Oscar für den besten Kurzfilm gewann und nun mit 63 Jahren seinen ersten langen Spielfilm vorlegt, eine einfache Geschichte. - Und doch erzählt er in der an alte Menschheitsmythen erinnernden, aber in Wirklichkeit von ihm selbst entwickelten Story universell und zeitlos vom Leben, vermittelt in Luftaufnahmen des am Strand liegenden Schiffbrüchigen ebenso seine Verlorenheit und Einsamkeit wie später in innigen Szenen das Glück der Liebe oder die Angst um die Angehörigen, als ein gewaltiger Tsunami über die Insel hereinbricht. Doch bei aller zerstörerischen Kraft der Natur feiert Regisseur Dudok de Wit auch immer wieder deren Schönheit, beschwört die Verbindung von Mensch und Natur, etwa wenn das Paar und dessen Sohn mit den Schildkröten im Meer schwimmen.

So einfach die Geschichte des mit drei Personen auskommenden Films auch ist, so beglückend ist die filmische Umsetzung. Bildmacht entwickelt dieser so andere Animationsfilm durch seine liebevolle Gestaltung. Zehn Jahre hat sich der Niederländer für den gerade mal 80 Minuten langen Film Zeit genommen. Dabei hat er 100.000 Zeichnungen angefertigt. Digital animiert wurden nur die Schildkröte und das Floß.

Leergefegte Bilder

Kein Spektakel und keine großen Effekte sind hier nötig. Wie bei der Handlung entwickelt der Film auch bei den Bildern durch Reduktion seine Schönheit. Nicht überfüllt sind sie, sondern fast schon leergefegt. Sie bleiben haften durch die Beschränkung auf jeweils eine Grundfarbe. Magische Wirkung entfalten die ganz in Schwarz-weiß gehaltenen Nachtszenen -ebenso wie der leuchtend blaue Himmel oder ein in zahllosen Grünschattierungen schimmernder Bambuswald.

Doch nicht allein von den Bildern lebt der Animationsfilm "Die rote Schildkröte". Erst durch die perfekte Arbeit mit dem Ton, bei dem Regisseur Dudok de Wit vorwiegend mit Naturgeräuschen arbeitet und nur punktuell, aber damit umso wirksamer Musik einsetzt, entwickelt dieses magische Filmmärchen leise, aber nachhaltig seine Wirkung.

Die rote Schildkröte (La tortue rouge) J/F/B 2016. Regie: Michael Dudok de Wit. Polyfilm. 80 Min.

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