Schonungslos zärtlich

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Marie-Louise von Motesiczky und die einfühlenden Bilder ihrer alternden Mutter. Ein Porträt zum 100. Geburtstag von Hubert Gaisbauer

London im Jänner 1986. In Hampstead, Chesterford Garden, empfängt uns die 80-jährige Dame. Wir trinken Tee, essen von der mitgebrachten kleinen Sachertorte, plaudern und erleben Stunden voller erzählfreudiger Lebendigkeit. 50 Jahre Exil konnten dem kultivierten Wienerisch kaum etwas anhaben, nur ganz selten sucht sie nach dem passenden deutschen Wort. Dann zeigt uns Marie Louise von Motesiczky die Bilder.

Wir kannten sie aus dem Katalog einer Ausstellung im Londoner Goethe-Institut, die Hilde Spiel im Jahr davor angeregt hatte. Trotzdem waren die späten Porträts ihrer Mutter ein Schock. Doch durch alle Schonungslosigkeit der Darstellung des Verfalls eines Menschen bis zu seinem Tod leuchtet die Liebe der Tochter. Eigentlich, sagt die Malerin, habe sie sich 40 Jahre ihrer Mutter geopfert, die Entwicklungen der Zeit und die Auseinandersetzungen mit der Kunst wären an ihr nahezu spurlos vorüber gezogen. "Ich hab' geglaubt, ich geh' zugrund', aber mit diesen Mutterbildern habe ich mich am Leben erhalten." Jetzt hängen sie mit rund 60 anderen Porträts und Stillleben der 1996 verstorbenen Malerin im Wien Museum am Karlsplatz.

"Die rückhaltlosen, aber doch würdevollen Darstellungen eines alternden, später fast hilflosen alten Menschen zählen zu den hervorragendsten Beispielen der Porträtkunst Europas im 20. Jahrhundert", schreibt Ines Schlenker im Ausstellungskatalog. Als die eindrucksvollsten Bilder entstanden, war die Mutter 95 Jahre alt und so schwach, dass sie nur mehr liegen konnte. "Aber wenn ich sie gemalt hab', dann hat sie sich aufgesetzt im Bett und hat gesagt: ,Malen?' Und es war so schön!"

Heimat und Exil

Henriette von Motesiczky stammte aus dem kultivierten jüdischen Wiener Großbürgertum, sie war das jüngste Kind von Leopold und Anna von Lieben, geborene Todesco. Ihre Mutter ist als Fall "Cäcilie M." des jungen Dr. Sigmund Freud in die Geschichte der Psychoanalyse eingegangen. Früh heiratet sie den tschechischen Adeligen Edmund von Motesiczky und früh, mit 27, wird sie Witwe.

Marie-Louise, der angehenden Künstlerin, ermöglichte die Mutter alles, was deren Begabung fördern sollte: Aufenthalte in Den Haag, Paris, Frankfurt, Berlin. Max Beckmann nimmt sie in seine Meisterklasse. Bald aber wachsen seitens der Mutter Besitzanspruch und die Angst, allein gelassen zu werden. Der nüchternen Wirklichkeit der sich verändernden Zeit konnte sie nicht entsprechend begegnen. 1938 wollte sie nicht verstehen, warum sie, einen Tag nach dem Einmarsch Hitlers, Hals über Kopf Österreich verlassen sollten. Marie-Louise und ihre Mutter beschließen, über die Schweiz nach England zu gehen. "Es ist mir gelungen, sie zu schützen, sodass sie nie gewusst hat, dass unser Leben in Gefahr war."

Für die Malweise von Marie-Louise von Motesiczky hat sich die kunsthistorische Rezeption auf den Begriff "lyrisch gebrochener Expressionismus" geeinigt. Eigentlich hat sie aber zeitlebens Distanz zu allen Stilen gehalten. Auseinandersetzung mit kunstphilosophischen Strömungen war nicht ihre Sache. Dafür hatte sie als wichtigste künstlerische Reflexionsebene die Gespräche mit Elias Canetti, mit dem sie eine jahrzehntelange schwierige Liebesbeziehung verband. Unbestritten ist ihre geistige und malerische Unabhängigkeit, sowohl von dem verehrten Lehrer Max Beckmann als auch von Oskar Kokoschka, der sie in Hampstead "irgendwie adoptiert" hatte. Sätze wie der von Max Beckmann über den Auftrag des Künstlers bestärkten sie nur in ihrer eigenen Moralität und Einfühlsamkeit: "Dass wir den Menschen ein Bild ihres Schicksals geben. Und das kann man nur, wenn man sie liebt."

Bilder alternder Frauen

Der Kunsthistoriker Ernst H. Gombrich stellte die Mutterbilder Marie-Louise von Motesiczkys neben die berühmte Kohlezeichnung von Dürers Mutter von 1514. Sie gilt ja als das erste Realporträt der alten, kranken Mutter eines Künstlers, in dem sich naturalistische Wahrhaftigkeit mit liebender Anteilnahme vereint. Empathie ist das Schlüsselwort, bei Dürer und bei Motesiczky.

In der Kunst des Mittelalters und der Renaissance finden sich Bildnisse alter Frauen fast nur in einem negativen Bedeutungszusammenhang. Dürer selbst hat mit der Darstellung des Alten Weibes mit Geldbeutel 1507 eine der üblichen und unzähligen weiblichen Alterskarikaturen geschaffen, Sinnbilder für Vergänglichkeit, Geiz und Raffgier. Das männliche Alter hingegen fand in Heiligen und Patriarchen, Büßern und Kirchenlehrern fast ausschließlich einen würdigen Ausdruck für die Hinwendung zu den ewigen Dingen. Mit Dürer beginnt in der Kunstgeschichte die vorbehaltlose Annahme weiblichen Alterns ohne negativen Hintergrund.

Selbst in den letzten Porträts von Motesiczkys Mutter ist trotz körperlicher Schwäche noch immer die Lust an der Teilnahme am Leben zu lesen. Als hätte das Gegenüber der malenden Tochter Angst und Depression vertrieben, als sprächen sie zueinander nur mit den Augen. Immer wieder dieses Aufgerichtet-Sein, etwa in dem Bild Mutter mit Stab, diese erwartungsvoll weit geöffneten Augen, diese neugierig hochgezogenen Brauen. Der Stab ist eine Erweiterung des Aktionskreises, gibt das Gefühl, "noch etwas in der Hand zu haben", ist vielleicht ein Instrument, mit dem man sich durch Klopfen bemerkbar machen kann, wenn das Sprechen mühsam geworden ist.

Gerade in diesem Bild verwischt sich auch die Grenze männlich-weiblich. Mit dem kahlen Kopf, dem geflochtenen Haarzöpfchen, dem Stab und der gesammelten Aufmerksamkeit des Gesichts assoziiert sich eher das Erscheinungsbild eines asketischen Zen-Meisters als das einer hinfälligen Frau.

Würde bis zuletzt

Vor allem im 19. und im angehenden 20. Jahrhundert haben Maler immer wieder ihre Mütter gemalt. Die Liste reicht von Renoir über Liebermann bis Van Gogh und Schiele, um nur einige Namen zu nennen. Vorwiegend brave Söhne, die ein "heiles" Mutterbild überliefern wollten. Es musste eine Malerin kommen, die vielleicht durch die Gleichgeschlechtlichkeit zu dieser schonungslosen Zärtlichkeit gelangen konnte, die den Söhnen offenbar verwehrt bleibt.

Motesiczkys Mutterbilder sind eine anschauliche Lektion vor dem Hintergrund unserer Pflege-Debatten und Hospiz-Bemühungen. Immerhin war die Malerin selber 70, als die letzten Bilder entstanden sind. Sie zeigen Stufen der Zuwendung und der Liebe ebenso wie Stufen der Läuterung und des Abschieds. Zeigen Wirklichkeit und Würde des Lebens "bis zuletzt". Der Tod kündigt sich hier nicht als exitus an, sondern als transitus, als Übergang.

Marie-Louise von Motesiczky war im traditionellen Sinn nicht religiös. Dennoch steht sie im Strom jüdischer Tradition, der das "Ehre deine Eltern" eines der großen Gebote ist. Marie-Louise von Motesiczky hat dieser Tradition entsprochen. Noch klingt der Satz aus unserem Gespräch 1986 in London im Ohr: "Und meine Mutter hat ein solches Gottvertrauen gehabt in mich!"

WHO IS MARIE-LOUISE

VON MOTESICZKY?

Malerin zwischen Wien und London

Wien Museum Karlsplatz, 1040 Wien

Bis 20. 5. Di-So u. Feiertag 9-18 Uhr

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