"Schreiben heiSSt: Sich SelbSt leSen"

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Vor 100 Jahren wurde Max FriSch geboren. der auSgebildete architekt Stellte in Seinen werken die identitätSFrage. Seine Figuren Sind Migranten in einer globaliSierten welt.

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Vor 100 Jahren wurde Max FriSch geboren. der auSgebildete architekt Stellte in Seinen werken die identitätSFrage. Seine Figuren Sind Migranten in einer globaliSierten welt.

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In "Montauk", dem vielleicht besten Buch von Max Frisch, gibt es ein Register der Frisch-Leser. Da sind die Verehrer und die Honoratioren, die Schmeichler und die Neider, schließlich auch die Lehrer, die Generationen von Schülern und Studenten mit "Homo faber" und "Andorra" traktiert haben. Obenan stehen die Schauspieler. Sie sind ehrlich im Spiel, aufrichtig in der Fiktion. Sie wissen, was sie tun, wenn sie das Leben lesen, das eigene und das der anderen. Sie verkörpern die oberste von Frischs Maximen: "Schreiben heißt: sich selbst lesen".

Der Schauspieler als Autor: Das ist so etwas wie ein Betriebsgeheimnis des in vieler Hinsicht bühnen-und filmreifen Werkes von Max Frisch. Noch die Übergabe des auf Hochglanz geputzten Jaguars an Volker Schlöndorff, der 1990 Frischs "Faber" verfilmte, wird wie ein Minidrama inszeniert: Der Wagen, meinte der seinerzeit todkranke Frisch, "eignet sich besonders zum Vorfahren bei Hotels. Da gibt es immer noch ein Zimmer ...".

Was ist von Max Frischs Werken geblieben, was sagen sie heute? Die Beliebtheit seiner Dramen auf deutschen Bühnen ist ungebrochen, das Erzählwerk wird nach wie vor an Schulen gelesen und wissenschaftlich erforscht, seine Bücher erreichen Millionenauflagen, in der Schweiz ist er der meistgelesene Autor. Drei neue Biografien zeichnen ein Lebensbild, das sich nicht auf einen Punkt, aber auf viele Geschichten bringen lässt: "Biografie: ein Spiel"(1967) auch hier.

Zwei Geschichten spielen in Max Frischs Biografie eine besondere Rolle: die des ausgebildeten Architekten (und Architektensohnes) und die des Mannes vieler Frauen. Die eine Geschichte stiftet die Zutaten, deren ein gelungenes Werk bedarf, Planungsgenauigkeit und Fantasie, Statik und Schönheit der Form. Von 1936 bis 1941 studierte Frisch, nach journalistischen Anfängen, Architektur an der ETH Zürich, erst 1955 hängte er diesen Beruf an den Nagel. Brecht, einer von Frischs wichtigsten Lehrmeistern, soll 1947 auf dem Zehnmeterturm, der das von Frisch erbaute Zürcher Freibad krönt, gesagt haben: "Alle Achtung!" Auf einem anderen Blatt stehen die Ehen und Affären Frischs, der an die "Macht der Liebe und der Untreue" glaubte. In der Erzählung "Montauk", einem "Buch der Liebe, geschrieben von einem Dichter der Angst"(Marcel Reich-Ranicki), das auch über die letztlich unglückliche Beziehung des Autors mit Ingeborg Bachmann berichtet, heißt es schonungslos: "Das Ende haben wir nicht gut bestanden, beide nicht."

In Zorn und Scham Schweizer

Geboren wurde Max Frisch 1911 in Zürich, dort ist er 1991 gestorben. Die Schweiz hat ihn zeitlebens geprägt. "Seine" Schweiz war es nicht. In "Zorn und Scham" blieb er dem Land verbunden, obwohl er fast vierzig Jahre lang aufgrund "staatsgefährdender" Schriften von der Schweizer Geheimpolizei überwacht wurde. Frischs Herkunft ist eine europäische. Der Großvater väterlicherseits kam als Sattler aus Österreich, der Großvater der Mutter wanderte aus Württemberg ein. Seine Figuren sind Migranten in einer globalisierten Welt. Seiner eigenen Geschichte hat Frisch, der jahrelang in New York und in Rom lebte, viele eigene Erfahrungen mitgegeben. Auch politische. Die Essays, die man, neben den Tagebüchern, am meisten zur Neulektüre empfehlen kann, sondieren ihre Zeit aus zukunftssicherer Perspektive. "Wir wissen", heißt es 1966, "dass Europa sich nur noch als Union wird behaupten können."

Max Frisch hat die "Öffentlichkeit als Partner" entdeckt, nicht als Konkurrenten. Der Impuls war, im Jahr 1966, die Auseinandersetzung mit Emil Staiger, den Frisch als junger Germanistikstudent schon 1931 kennengelernt hatte. Im sogenannten Zürcher Literaturstreit prallten unvereinbare Auffassungen aufeinander: eine klassisch-idealistische und eine moderne, die eine Sprache suchte, "die wieder etwas besagt, die unseren Erfahrungen in dieser Epoche standzuhalten vermöchte". Kein Zweifel, Max Frisch hat die kulturelle Atmosphäre in der Schweiz und in Deutschland maßgeblich verändert. Er war ein Klimawandler und ein "Mythenbeseitiger", wie Staigers Lehrstuhlnachfolger Peter von Matt festhält. "Frisch war unsere Chance", so würdigt ihn der jüngere Kollege Peter Bichsel.

Lehrstücke ohne Lehre

"Stiller" (1954) und "Homo faber" (1957) formulieren das Grundgesetz der Identitätsfrage: Was wäre, wenn einer sein Leben neu erfinden könnte, und wie viele Ichs verträgt eine (Lebens-)Geschichte? "Biedermann und die Brandstifter"(1957) und "Andorra"(1961), Frischs erfolgreichste Stücke, gehen auf Kurzgeschichten im "Tagebuch 1966-1971" zurück. Es sind Lehrstücke ohne Lehre, schillernd zwischen Farce und Moritat, oft missverstanden als Botschaftsdramen. "Andorra", so aber der Autor in einem Brief an seinen Verleger Unseld und seinen Lektor Enzensberger vom 10.1.1961, sei kein Stück "von den Eichmanns". Es handle "von uns und von unsern Freunden, von lauter Nichtkriegsverbrechern und Halbspassantisemiten, d.h. von den Millionen, die es möglich machten, dass Hitler (um schematisch zu reden) nicht hat Maler werden müssen."

Wer hinter den Romanen, Berichten, Journalen, Stücken das Bild des ,wirklichen' Autors sucht, der ist bekanntlich auf dem Holzweg. Frisch war überzeugt, dass man alles, außer das eigene Leben erzählen könne, und dass die Erfahrung für den Schriftsteller kein "Ergebnis von Vorfällen" ist, sondern ein Einfall, ein Spiel, eine Fiktion: "Die Erfahrung dichtet."

Frischs Werke sind auch im übertragenen Sinne eine Bühne für die Geschichten, die wir für das Leben halten. Frisch war reich, an Geld wie an Erfolg, dabei großzügig gegenüber Freunden. Er war ein Freund des Experiments und des kalkulierten Effekts. Er war ein Liebender, der mit Eifersucht und Eitelkeit kokettierte. Der Autor Frisch, pointierte Dürrenmatt, hat seinen Fall zur Welt gemacht. Es ist der Fall eines Autors, der für seine Erfahrungen Geschichten gefunden hat - Geschichten, die dem Leben und seiner Zeit auf den Grund gehen.

Ein kanonischer Autor, der durch seine Klassizität einschüchtert, ist Frisch indes nicht. "Überzeugt Sie Ihre Selbstkritik?" So lautet eine der Fragen in den geschliffenen Litaneien der Selbsterkundung, die sich durch seine Tagebücher ziehen. Selbstkritisch ist, wer sich selbst zu lesen versteht. Insofern wäre es an der Zeit, wieder um einen Max Frisch von innen zu bitten. Mit den drei Tagebüchern kann man damit wunderbar beginnen.

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