Schriller Alarm für westliche Demokratien

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Die umfassenden Spähaktivitäten von NSA &Co. werfen die üblichen Rankings über Presse- und Meinungsfreiheit ziemlich über den Haufen.

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Die umfassenden Spähaktivitäten von NSA &Co. werfen die üblichen Rankings über Presse- und Meinungsfreiheit ziemlich über den Haufen.

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Nach "Reporter ohne Grenzen" hat jetzt auch "Freedom House" Alarm geschlagen: Die Pressefreiheit ist weltweit bedroht, die Zustände haben sich in den letzten Jahren dramatisch verschlechtert, vermeldete kürzlich die amerikanische NGO in ihrem Jahresbericht. Demnach kommt weltweit nur noch einer von sieben Menschen in den Genuss von Presse-und Meinungsfreiheit. Insbesondere im Mittleren Osten, zum Beispiel in Ägypten, Libyen und Jordanien, aber auch in der Türkei, in der Ukraine und in mehreren Ländern in Ostafrika hätten sich die Bedingungen verschärft - und nicht zuletzt "in der relativ offenen Medienumgebung der Vereinigten Staaten", vermeldete der Bericht.

Dabei gewinnt man allerdings den Eindruck, dass sich in den Rankings, welche die beiden NGOs jährlich neu erstellen, die schlimmste Attacke auf die Presse- und Meinungsfreiheit, die jemals von den westlichen Demokratien selbst ausging, noch gar nicht richtig niedergeschlagen hat: Noch tun sich offenbar auch gewiefte Medienexperten und Wissenschaftler schwer damit zu ermessen, welche Folgen für unser aller Freiheit die Spähaktivitäten haben, welche die "Five Eyes", die Geheimdienste der USA, Kanadas, Australiens, Neuseelands und des Vereinigten Königreichs, praktizieren - bis zu den Enthüllungen Edward Snowdens in trauter Eintracht mit Google, Facebook und anderen Internet-Giganten. Kann es Presse-und Meinungsfreiheit noch geben, wo es kein Privatleben mehr gibt - und wo jeder Whistleblower, der sich Journalisten anvertraut und seine Botschaften noch so raffiniert verschlüsseln mag, damit rechnen muss, sich in den Fängen und Fallstricken der NSA und ihrer Kumpane zu verheddern?

Auf einem Auge blind

Dass die USA im amerikanischen Ranking von "Freedom House" nach wie vor auf einem der vorderen Plätze (Rang 30) spielen, muss unter diesen Umständen irritieren -und den Eindruck erwecken, dass die Gutachter auf einem Auge blind sind. Vom europäischen Pendant "Reporter ohne Grenzen" wurden die Vereinigten Staaten immerhin 15 Positionen zurück versetzt - im Index rangieren sie jetzt auf Platz 44 zwischen Rumänien und Haiti. Aber auch diese Bewertung lässt Zweifel aufkommen: Warum wurden von "Reporter ohne Grenzen" nur die USA, nicht aber die anderen Späher-Staaten in vergleichbarer Weise abgestraft?

Und was haben in den letzten Jahren nicht Internet-Gurus, aber auch ernstzunehmende Wissenschaftler alles über die neuen Freiheiten und das Demokratisierungspotential von Web 2.0 fabuliert? Der empirische Befund, mit dem jetzt ergänzend zu den Rankings zwei amerikanische Forscher, Karin Deutsch Karlekar und Lee B. Becker, aufwarten, sieht eben ganz anders aus: Sie konstatieren ebenfalls an vielen Ecken der Welt sowohl bei der Presse- und Meinungsfreiheit als auch bei der Versammlungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit signifikante Rückschritte - und zwar nicht nur dort, wo autoritäre Regime (wie etwa in der Türkei, in Russland, aber auch in Ungarn oder der Ukraine) elementare bürgerliche Freiheiten gezielt abgewürgt haben, sondern auch in "seit langem etablierten Demokratien" namentlich in Westeuropa, wo eher ökonomische Probleme daran schuld seien, dass diese Freiheiten und Bürgerrechte verkümmert sind.

Die Studie der beiden Forscher basiert auf einem Langzeitvergleich von Daten, die "Freedom House" seit Anfang der 1980er-Jahre weltweit erhebt - wobei diese Organisation, anders als "Reporter ohne Grenzen", nicht nur der Entwicklung der Pressefreiheit nachspürt, sondern sich eben auch um die anderen elementaren bürgerlichen Freiheitsrechte kümmert. Immerhin: Der Datenabgleich zeigt einmal mehr, dass Demokratie und Pressefreiheit sehr eng miteinander korrelieren: Erstere ist ohne letztere wohl nicht zu haben, und wenn letztere bedroht ist, ist stets auch die Demokratie selbst akut gefährdet.

Vergleich über Kulturgrenzen hinweg

So sehr sich Organisationen wie "Freedom House" und "Reporter ohne Grenzen" bemühen mögen, ihre Daten weltweit auf redliche und sorgfältige Weise zu erheben, so schwierig und problematisch bleibt allerdings trotzdem der Vergleich über die Kulturgrenzen hinweg - weshalb auch eine Forschungsarbeit wie die von Karlekar und Becker, die jetzt erstmals langfristige Schlussfolgerungen aus den vorhandenen Datensätzen zieht, mit Vorsicht zu genießen ist. Die wohl wichtigste Fußnote zu den Pressefreiheitsrankings und zu den Befunden der beiden Forscher ist, dass derzeit vermutlich keine wissenschaftliche Studie ermessen kann, welche dramatischen Folgen für die Presse- und Meinungsfreiheit es hat, dass wir alle von der NSA und ihren verbündeten Geheimdiensten ausgehorcht werden. Mit den Enthüllungen Edward Snowdens hat sich die Welt der Demokratien mehr verfinstert, als dies Putin und Erdogan, die iranischen Mullahs und andere Autokraten selbst bei gemeinsamen Anstrengungen je vermocht hätten -aber so ganz haben wir alle wohl noch gar nicht begriffen, was hier mit uns geschieht.

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