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Gegründet in der Monarchie, aufgeblüht in der Zwischenkriegszeit, hat sie Krieg und Kommunismus überdauert und ist seit der Wende vom Niedergang bedroht: Die mährische Kleinstadt Zlín am Vorabend des EU-Beitritts.

Der drohende Niedergang Zlíns scheint ebenso wie sein Aufstieg vor rund 100 Jahren mit dem Schicksal seiner Industrie verknüpft. Die einzigartige Entwicklung vom kleinen mährischen Marktflecken, 80 Kilometer östlich von Brünn, zur Ikone des Neuen Bauens der zwanziger und dreißiger Jahre verdankte Zlín den Schuhmachern TomáÇs und Jan Bat'a. Tomas, der ältere der beiden Brüder, war ein Prototyp des europäischen Selfmademan: 1894 gründete er, erst achtzehnjährig, seine eigene Manufaktur, die bei der Produktionsverlagerung an den Stadtrand um die Jahrhundertwende bereits 120 Arbeiter zählte.

Dynamik um 1910

Der dynamisch wachsende Betrieb löste einen Modernisierungsschub für ganz Zlín aus. Zwischen 1910 und 1913 wurde ein Kraftwerk errichtet, die Kanalisation aufgebaut sowie das Telefonnetz erweitert. Der Bau einer zusätzlichen Eisenbahnstrecke sowie die Regulierung des DÇrevnice-Flusses wurden durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges verhindert. Dieser bedeutete aber keineswegs einen Einbruch in der Entwicklung der Stadt, denn TomáÇs Bat'a war es gelungen, den Auftrag für die gesamten Schuhlieferungen an die österreichisch-ungarische Armee zu gewinnen.

Von 1914 bis 1918 verzehnfachte sich die Zahl seiner Arbeiter auf 4.000. Die meisten pendelten zunächst täglich aus der Region ein oder wohnten notdürftig in der Stadt. So begann das Unternehmen mit dem Bau erster Arbeiterkolonien-Wohnungen für neue Bürger, die bei den Kommunalwahlen 1923 den Sieg der Wahlgruppe der Bat'a-Angestellten mit ermöglichten: TomáÇs Bat'a wurde Bürgermeister von Zlín und steuerte fortan den rasanten Aufstieg seines Konzerns ebenso wie die erstaunliche Entfaltung der Stadt.

Ikone neuen Bauens

Bat'a war ein strenger Rationalist, und dies spiegelte sich nicht nur im Produktionsprozess, sondern auch an den Produktionsgebäuden wider. Sein Ziel war es, Bauwerke - genauso wie Schuhe - in Serienproduktion und somit kostengünstig herzustellen. Die Grundlage für Bat'as Fabrikbauten stellte ein Stahlbetonskelett mit Füllmauerwerk aus Ziegeln dar, das von den Ingenieuren der Bat'a-Baugesellschaft solange standardisiert wurde, bis ein universell verwendbarer 6,15 x 6,15 Meter-Modulraster entstand. Dieser gelangte nicht nur im Industriebau, sondern auch im Gesellschafts- und Wohnbau zum Einsatz.

"Kollektiv arbeiten, individuell Wohnen" war die gegen Mietskasernen gerichtete Losung. Das Leben in Ein- bzw. Zweifamilienhäusern mit eigenem Garten sollte bei den Bewohnern eine für die Firma nützliche Zufriedenheit schaffen und sozialen Unruhen vorbeugen. So wurden die Hügel Zlíns von Bat'as Baugesellschaft im selben Maße mit den klinkerroten Wohnwürfeln überzogen, wie die Beschäftigtenzahl des Werks wuchs - zwischen 1925 und 1930 stieg diese von 5.200 auf 17.400 an.

Die beiden federführenden Architekten Jan KotÇera und FrantiÇsek L. Gahura übertrugen auf Zlín Ideen der Gartenstadt - und lösten mit ihren Pavillontypen die von Bat'a gestellte Aufgabe, bei minimalem Aufwand an Baufläche und Investitionen individuelles Wohnen sowie einen relativ hohen Wohnstandard zu ermöglichen. Sie traten den Beweis an, dass Typisierung und Standardisierung keinesfalls eine Hürde für architektonisch hochwertiges Entwerfen sein müssen. Es durfte nur zu keiner Vereinfachung und Einschränkung des architektonischen Schöpfens an sich kommen, was durch internationale Architekturwettbewerbe gewährleistetet wurde. Die besondere Qualität der Werkssiedlungen rührt daher, dass sich die Architekten nie auf die funktionale Seite der Aufgabe beschränkten, sondern das grundlegende Konzept stets um ästhetische und psychologische Aspekte erweiterten.

Tomas Bat'a wurde auch seinem Amt als Bürgermeister mehr als gerecht. In nur wenigen Jahren entstanden ein Handelszentrum (natürlich in Bat'as Besitz) und eine Markthalle, ein Gesellschaftshaus mit einem Großkino für über 2.000 Besucher, Sporthallen und Schwimmbäder, ein Krankenhaus, Arbeiterheime, Lehrlingsinternate, Schulen und Studieninstitute, selbst ein Filmstudio, eine Bibliothek und ein Museum - sowie (vor allem zum Vorteil der Bat'a-Werke) eine neue Schienenverbindung, ein Schiffskanal und ein Flughafen.

Weltgrößter Schuhkonzern

Zum Wahrzeichen Zlíns wurde der 17-geschoßige Verwaltungsbau der Bat'a-Werke, kurzzeitig das höchste Gebäude in Europa. TomáÇs Bat'a selbst saß in einem fahrbaren Büro - ein 6 x 6 Meter großer Aufzug sollte ihm ermöglichen, alle 17 Etagen zu überwachen. Nach einiger Zeit musste Bat'a aber davon Abstand nehmen, da er durch das ständige Pendeln zwischen den Geschoßen kaum zu erreichen war.

Auch nach dem Tod des Firmengründers im Jahr 1932 - er zerschellte mit seinem Flugzeug bei dichtem Nebel an einem Schlot seiner Fabrik - hielt der Aufstieg des Unternehmens an. 1938 beschäftigte Bat'a über 65.000 Angestellte, ein Drittel davon im Ausland, und beherrschte sechs Siebtel der gesamten tschechoslowakischen Schuhproduktion sowie 90 Prozent des Schuhexports. Bat'a war der Welt größter Schuhkonzern - und Zlín stieg mit über 44.000 Einwohnern zur viertgrößten Stadt Mährens und Schlesiens auf.

Mit den Schuhen aus Zlín wurde auch die Bat'a-Architektur exportiert. In Westeuropa und Nordamerika entstanden Fabriken, Geschäftshäuser und Wohnsiedlungen nach erprobtem Schema. Die Bat'a-Moderne war allerorts auch Symbol für den Schuh aus dem Hause Bat'a, eine permanente Werbung für die Fortschrittlichkeit der Firma. Die internationale Architektenschaft - allen voran Le Corbusier - sah in Zlín, der ersten und einzigen funktionalistischen Stadt der Welt, die eindrucksvolle Realisierung der Theorien des modernen Städtebaus, der Charta von Athen.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde Zlín zu Ehren des ersten kommunistischen Staatspräsidenten Klement Gottwald in Gottwaldov und das Werk in Svit umbenannt, auf tschechisch "Glanz" oder "Schein". Die enteignete Familie Bat'a emigrierte nach Kanada, von wo aus sie bis heute ihr weltweites Schuhimperium leitet. Glücklicherweise verblieben aber noch etliche Architekten aus der "goldenen Ära" in der Stadt, wodurch der Geist der zwanziger und dreißiger Jahre noch einige Zeit weiterwirkte. Und ehe sich die Welle der Plattenbauten über Zlín ergießen konnte, wurde es quasi unter Schutz gestellt.

Mit der Wende war es aus

Das Wendejahr 1989 bedeutete natürlich einen dramatischen Einschnitt in die wirtschaftliche und somit auch in die urbanistische Entwicklung Zlíns. Mit einem Schlag brach der Absatz in den ehemaligen Bruderstaaten zusammen - und im Wettbewerb mit westlichen Konkurrenten konnte die Schuhstadt Zlín a la long nicht bestehen. 2001 musste das Werk, das zuletzt noch 4.000 Menschen Arbeit gab, endgültig schließen.

Nachdem in den neunziger Jahren - wie überall in den Reformstaaten - großmaßstäbige Straßenbauprojekte, ein Wildwuchs an Einkaufszentren und die beginnende Zersiedlung an der urbanistischen Qualität Zlíns zu zehren begannen, ist nun auch das architektonischen Erbe der Moderne selbst bedroht. Das Areal der Schuhfabrik wurde für Investoren geöffnet - und die Werkswohnungen an die bisherigen Mieter verkauft. Diese begannen darauf hin mit der individuellen "Sanierung" ihrer Häuser, die nach dem Austausch der originalen Fenster und der Anbringung einer Wärmedämmung in der Regel kaum mehr als Bat'a-Bauten erkennbar sind. Zwar wurden einige Kernzonen des gesamtstädtischen Ensembles unter Denkmalschutz gestellt, doch ohne öffentliche Subventionen bleibt dies wirkungslos.

EU-Beitritt verschärft Krise

Paradoxerweise wird sich die budgetäre Situation mit dem bevorstehenden EU-Beitritt Tschechiens noch weiter verschärfen. Denn der aktuelle Hauptarbeitgeber der Region, der deutsche Reifenhersteller Continental, der nach dem Fall des Eisernen Vorhangs Produktionsstätten aus dem teuren Westeuropa (unter anderem das Semperit-Werk in Traiskirchen) ins billigere Mittelosteuropa verlagerte, dürfte die 80.000 Einwohner zählende Stadt demnächst wieder verlassen - und noch weiter gen Osten ziehen. Es bleibt zu hoffen, dass der EU-Beitritt für Zlín auch noch andere, positivere Perspektiven eröffnet: Die europäische Kultur- und Regionalpolitik sollte sich mitverantwortlich fühlen, dieses einzigartige architektonische Erbe im Herzen des Kontinents vor weiterem Schaden zu bewahren.

Der Autor ist Stadtplaner und Fachpublizist in Wien.

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