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Wie soll man Kinder zur Versöhnung erziehen, wenn sie in einer Welt der Gewalt und blutigen Vergeltung aufwachsen?

Ein kleines Mädchen, das ein riesiges Kreuz durch eine aufgebrachte Menge schleppt - eine Karikatur im britischen "Independent" illustriert den Spießrutenlauf katholischer Kinder, deren Schulweg durch ein von Protestanten bewohntes Viertel führt. Die Protes-tanten wollen auf "ihrer" Ardoyne Road keine Katholiken dulden, sie fühlen sich von ihnen bedroht. Die katholischen Eltern wieder denken nicht daran, nachzugeben und mit ihren Kindern einen anderen, längeren Schulweg zu gehen, obwohl das die Leitung der "Holy Cross"-Schule empfiehlt, damit die Kinder nicht für ihr Leben traumatisiert werden. "In 30 Jahren als Priester habe ich noch nie so viel blanken Hass erlebt", erklärte Schulleiter Aidan Troy.

Gewaltakte sind den Nordiren vertraut. Allein in der Nacht zum 5. September wurden in Belfast 15 Brandbomben und 250 Molotow-Cocktails gezündet, 41 Polizisten und zwei Soldaten erlitten Verletzungen, vier Autos brannten aus. Ein 16-jähriger Protestant wurde von einem Auto getötet, das aus einem katholischen Viertel kam. Zuvor soll es von Protestanten mit Steinen beworfen worden sein. Jeder Hoffnung auf Frieden folgte bisher - eine Parallele zu Israel - die Ernüchterung auf dem Fuß: Einzelne radikale Gruppen sind offenbar brennend daran interessiert, weiter den Hass zu schüren und jeden Versöhnungsversuch zu zerstören.

Dieser Tage könnten sich die Wiener des Endes der Türkenbelagerung von 1683 erinnern. Doch niemand käme auf die Idee, das zum Anlass zu nehmen, einen Gedenkmarsch zu veranstalten, der durch heute hauptsächlich von aus der Türkei stammenden Gastarbeitern oder Mitbürgern besiedelte Gebiete führt. Nordirland ist anders. Dort pocht der protestantische Oranierorden auf seine Tradition, durch katholische Gebiete zu marschieren, um den 1690 errungenen Sieg über die Katholiken zu feiern. Wem außer einer äußerst fragwürdigen Gruppensolidarisierung sollen solche provokante Aktionen nützen?

Natürlich gibt es solche über Jahrhunderte "gepflegte" Gegensätze, die dann und wann in Orgien des Hasses münden, auch anderswo. Doch in Irland gehen sie dem Europäer besonders nahe, weil sein Kulturkreis betroffen ist und scheinbar auch seine Religion eine Rolle spielt. Aber haben diese Auseinandersetzungen wirklich etwas mit echtem Chris-tentum zu tun? Bis auf einzelne Fanatiker stehen auch in Nordirland die Geistlichen der christlichen Kirchen, insbesondere die höheren Würdenträger, allen Gewalttaten mit Abscheu gegenüber. Wer die Spirale des Hasses weiterdreht und sich dabei auf seinen christlichen Glauben - egal welcher Konfession - beruft, begeht einen eklatanten Missbrauch der Religion.

Ähnliches gilt durchaus auch für andere Kulturkreise, denn auch die anderen großen Weltreligionen betonen viel mehr den Gedanken der Versöhnung und des Friedens, als es manche ihrer militanten Vertreter erkennen lassen. Trotzdem ist es wahrscheinlich kein Zufall, wenn es besonders oft in jenen Gebieten kracht, wo Angehörige verschiedener Glaubensbekenntnisse zusammenkommen - Christen und Muslime, Juden und Muslime, Christen und Juden, Hindus und Sikhs, Christen unterschiedlicher Konfessionen.

Auch die jüngst mit mühsamen Kompromissen endende Anti-Rassismus-Konferenz in Durban kreiste nicht nur um Diskriminierungen aufgrund von Nationalität oder Hautfarbe, sondern auch um Konflikte mit zumindest teilweise religiösem Hintergrund.

Unbestritten ist, dass dahinter oft gravierende soziale Gegensätze und Probleme stehen. Deren Bewältigung bedarf häufig der Hilfe Dritter. Nach dem Subsidiaritätsprinzip haben natürlich zunächst die lokalen Streitparteien die Aufgabe, friedliche Lösungen zu finden. Wo sie das nicht schaffen, sollten rechtzeitig Vermittler von außen geholt und von dort auch angeboten werden, Leute, die auf beiden Seiten Vertrauen besitzen. Wenn sich, wie zuletzt am Balkan - irgendwann, meist sehr spät und wenn schon viel Blut geflossen ist, meist nur von einer Seite dazu aufgefordert und oft nur, wenn massiv eigene Interessen mitspielen - ausländisches Militär als Weltpolizei einmischt, ist das in der Regel kein Weg zu echter Versöhnung.

Gangbare Wege zur Versöhnung in Krisenregionen zu suchen, muss auch jenen zum Anliegen werden, die sich weit entfernt davon in trügerischer Sicherheit wähnen. Im globalen Dorf können über kurz oder lang auch lokale Krisen zur Weltkatastrophe führen.

Wer Kinder im wahrsten Sinn des Wortes einem Schulweg des Hasses aussetzt, setzt das friedliche Zusammenleben künftiger Generationen aufs Spiel. Wenn junge Menschen - ob in Palästina oder in Nordirland - in einer Welt der Gewalt und der Vergeltungsschläge aufwachsen, sind sie immens gefährdet, die überkommenen Konflikte ihrer Vorfahren weiterzuführen.

Nicht nur für die Bewohner des Belfaster Stadtteils Ardoyne hat ein neues Schuljahr begonnen. Die ganze Menschheit hat noch zu lernen, wie sie ihre Konflikte human löst und zu jener Haltung reift, die der griechische Tragödiendichter Sophokles schon vor über 2400 Jahren seiner Antigone in den Mund legte: "Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da."

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