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Pakistans Engagement in Afghanistan und Kaschmir hat dem Land in jeder Hinsicht geschadet.

Welches Pakistan wollen wir?" lautet der Titel einer Diskussion, zu der ein "Concerned Citizens' Forum" (Forum besorgter Bürger) in Lahore per Zeitungsannonce einlädt. Telefonnummern sind beigegeben, und auf einen Anruf hin ist der Präsident der Organisation, Hasnain Almakky, nicht nur sofort zu einem ersten Gespräch bereit. Einige Tage später folgt sogar eine Einladung zu einem Abendessen im Haus eines Mitinitiators des Forums, Sohail Zafar, einer geräumigen Villa mit Garten und entsprechendem Personal im elitären Lahore'schen Viertel Gulberg.

Ein Dutzend Freunde und Bekannte von Zafar, einem Arzt, finden sich ein, darunter ein weiterer Arzt, Geschäftsleute und Anwälte im Alter zwischen 45 und 60 Jahren, allesamt Pakistanis, die es beruflich geschafft haben und denen es persönlich an nichts fehlt. Mit entsprechendem finanziellen Hintergrund lässt es sich gut leben in der alten Kulturstadt Lahore, unweit der Grenze zu Indien. Für die Elite, hat eine in der feministischen Bewegung engagierte Frau aus der Oberschicht erst am Vortag betont, "ging selbst in den politisch allerschwierigsten Zeiten des Landes, wie unter dem Militärregime von Zia ul Haq (1977-88) das gute Leben mit Parties, Festen und dem offiziell verbotenen Alkohol weiter, nur eben in den Privathäusern."

Wenn Leute wie Zafar jedoch als Bürger Pakistans sprechen, dann will die Liste der Leiden, die sie anführen, nicht enden. "Sehen Sie doch, in was für einem Zustand das Land ist. Wir haben kein ordentliches Gesundheitssystem, kein ordentliches Bildungswesen. Unsere Regierung mag ja behaupten, dass die Alphabetisierungsrate bei 35-40 Prozent liegt, aber ich glaube nicht, dass sie höher als 20 Prozent ist. Eine Person, die es gerade einmal schafft, ihren Namen zu schreiben, kann man doch nicht als alphabetisiert bezeichnen", erklärt ein Gast und muss mit Bedauern zugeben, dass er angesichts solcher Zustände den Zustrom zu den Madrasas (Koranschulen) nur allzu gut verstehen kann. "Die Menschen sorgen sich um Roti, Kapra und Makaan (Brot, Kleidung und Behausung). Und sie möchten, dass ihr Leben im Vordergrund steht und nicht stets von den Interessen der Armee in Geißelhaft genommen wird", ergänzt ein anderer. Seine eigenen Kinder wie die aller anderen Anwesenden besuchen wohl Eliteschulen.

Gefangene des Militärs

"Doch was für eine Zukunft haben die Jugendlichen vor sich? Sie haben Zugang zu Internet und Kabelfernsehen und wissen, wie es anderswo in der Welt aussieht. Und dann blicken sie auf ihr eigenes Land und fragen sich, warum kann denn hier keine Entwicklung stattfinden?" Leute wie Zafar sind freilich nicht nur über die sozioökonomische Lage schockiert. Sie fühlen sich vor allem völlig machtlos. Natürlich können sie wohltätige Organisationen unterstützen. Sie können, wie seit der jüngsten Eskalation im Konflikt mit Indien, die die beiden Staaten an den Rand eines nuklearen Krieges brachte, Friedensaufrufe publizieren und zum Dialog mahnen. Doch von wem werden ihre Stimmen je gehört? "Der Raum für die Zivilgesellschaft in diesem Land ist immer enger geworden", betont I. A. Rehman, der Direktor der Menschenrechtskommission von Pakistan. "Gebildete und in ihren Metiers etablierte Menschen, die sich dafür entschieden haben, zu bleiben, und die am Aufbau ihres Landes mitwirken wollen, haben kein Mitspracherecht. Sie sind Gefangene des Militärs".

Modern, progressiv, tolerant

Besorgte Bürger können, klagt Zafar, nur philosophieren über einen pakistanischen Staat, wie ihn dessen Gründer, Mohammed Ali Jinnah, der allerdings bereits 1948, ein Jahr nach der Unabhängigkeit, verstarb, ihn sich vorgestellt hatte. Es hätte, sind sie überzeugt, ein moderner, progressiver, toleranter Staat für die Muslime des Subkontinents werden sollen, einer, wie sie ihn sich heute für sich selbst und ihre Kinder wünschen. Tatsächlich aber, betont ein Anwalt, "haben wir wieder einmal kein Parlament. Und das ist (von kurzen demokratischen Experimenten abgesehen) fast seit der Unabhängigkeit so."

Knapp 55 Jahre sind seither vergangen, "und Pakistan hat so wenig vorzuweisen. Schauen wir uns doch um. Wo gibt es noch ein anderes Land von unserer Größe, mit rund 140 Millionen Einwohnern, wo das Militär glaubt, regieren zu müssen. Man geniert sich doch, wenn das eigene Land so geleitet wird, während in Indien Wahlen stattfinden, Sri Lanka trotz Bürgerkriegs Urnengänge abhält, Bangladesch seine Bürger zu den Urnen ruft und in New York selbst nach dem 11. September ein neuer Bürgermeister gewählt wird."

"Pakistan", bringt es dann ein besorgter Bürger auf den Punkt, "hat den Fehler gemacht, seine Seele für Afghanistan und Kaschmir zu verkaufen. Unser Engagement in Afghanistan und unsere schizophrene Sicht Kaschmirs sind einzig und allein im Interesse des Militärs gewesen und auf Kosten unserer Wirtschaft und Entwicklung gegangen." Najam Sethi, Chefredakteur von The Friday Times, formuliert es ähnlich: "Das Militär hat stets die Außenpolitik dieses Landes bestimmt. Sie war ausnahmslos mit den Interessen der Armee und keinesfalls mit denen des Landes gekoppelt. Die Raison d'etre des Militärs waren Konflikte in der Region, ob in Afghanistan oder mit Indien; die Propaganda der Armee wurde zur Sicherheitsdoktrin und diese zur ultimativen Weisheit."

Nach Ansicht der besorgten Bürger sollten die Kaschmiris endlich das Recht auf Selbstbestimmung für ihr Gebiet bekommen, von dem seit dem ersten Krieg zwischen Indien und Pakistan 1948/49 ein Drittel bei Pakistan und zwei Drittel bei Indien verblieben sind. Die besorgten Bürger können und wollen in der mehrheitlich muslimischen Himalayaregion nicht die von offiziellen und militanten Kreisen oft beschworene "Schlagader" Pakistans sehen. Sie sind für viele Optionen offen, für ein Referendum - unabhängig von dessen Ausgang - ebenso wie für größtmögliche, echte Autonomie für beide Teile Kaschmirs und eine offene Grenze dazwischen, solange es den Wünschen der Kaschmiris entspricht. Es ist eine in liberalen gebildeten Kreisen dieser Tage häufig geäußerte Meinung.

"Kaschmir liegt uns im Blut"

Wie viele Pakistanis so denken, ist schwer abzuschätzen. Knapp vor der jüngsten Eskalation veröffentlichte das Monatsmagazin The Herald eine Umfrage, derzufolge sich die große Mehrheit der Pakistanis für liberal bis gemäßigt-konservativ hält und das Thema Kaschmir klar hinter Sorgen wie Arbeitslosigkeit, einem Krieg mit Indien, Inflation, Armut und Gesetzeslosigkeit rangiert. Fanatiker - eine kleine Minderheit mit, "beträchtlichem Störpotenzial" - sind dagegen bereit, bis zum letzten zu gehen. Und auch Präsident General Pervez Musharraf hat mehrfach erklärt, dass "Kaschmir uns im Blut liegt". Zugeich hat aber auch er in einer vielbeachteten Rede jenes Pakistan angesprochen, das sich seine Bewohner wünschen. "Wollen wir, dass Pakistan ein theokratischer Staat wird? Oder wollen wir, dass sich Pakistan zu einem progressiven und dynamischen islamischen Wohlfahrtsstaat entwickelt?", fragte Musharraf und betonte: "Das Urteil der Massen fällt zugunsten eines progressiven islamischen Staates aus."

Gescheiterter Staat?

In einer Rückkehr zur Demokratie sehen die besorgten Bürger die einzige Chance für einen Neubeginn in ihrem Land, auch wenn das demokratische Experiment von 1988 bis 1999 kurz und wenig erfolgreich war. "Es geht darum", verweist Sethi auf die Dimension der Herausforderung, "sich von einer mehr als drei Jahrzehnte lang verfolgten Politik abzuwenden." Der Raum, den die militärischen wie formal demokratischen Regime in all diesen Jahren aus "kurzsichtigen, opportunistischen Gründen den fundamentalistischen Kräften eingeräumt haben, muss diesen nun wieder genommen werden. Die überwältigende Mehrheit der Pakistanis lehnen jeden Fundamentalismus ab. Ihnen muss nun politischer Raum gegeben werden." Diese grundlegende Reorientierung "kann sicher nicht von heute auf morgen geschehen", betont Sethi. "Uns steht ein langer, schwieriger Kampf bevor."

Aber meint es Musharraf ernst, wenn er ein hartes Durchgreifen gegen all jene Madrasas ankündigt, die Fanatiker heranziehen? Wird er konsequent die radikalen extremistischen Gruppen verfolgen und gegen jene vorgehen, die den Djihad in den indischen Teil Kaschmirs tragen? Selbst wenn er ehrlich dazu entschlossen sein sollte, muss er sich erst gegen die beharrenden Kräfte in der Armee und im Geheimdienst durchsetzen. Zudem ist mit Racheakten lange unterstützter und nun fallen gelassener militanter Organisationen zu rechnen. Wird Musharraf, der sich gerade erst für fünf Jahre als Präsident hat bestätigen lassen, tatsächlich den Aufbau eines echten demokratischen Systems erlauben?

Pakistan ist vorerst weiter dort, wo es sich seit langem befindet. "Wir sind gescheitert, weil wir immer an einen Messias geglaubt haben, der uns auf den rechten Weg führen wird. Wir sind gescheitert, weil wir keine Institutionen geschaffen haben", betont ein besorgter Bürger und fragt, was nun in Aussicht steht: Ist es "ein allmächtiger Präsident, ein schwacher Premier, ein impotentes Parlament und ein omnipotenter Sicherheitsrat"? Für die Mächtigen im Land mag das ja gut so sein, "aber für Pakistan - und für seine Bürger - ist da nichts dabei".

"Warum wird Pakistan so oft als gescheiterter Staat bezeichnet? Weil sich niemand je um das Land kümmerte, sondern stets nur um Kaschmir und Afghanistan. Wir müssen endlich diesen Staat aufbauen, denn was wir jetzt haben, ist nicht das Pakistan, das wir wollen", sagt Zafar und fordert: "Ich möchte die nächsten 20 Jahre für Pakistan, für die Menschen hier."

Die Autorin ist freie Journalistin.

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