Sehen, hören, lesen und viel Fussball

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Karl-Markus Gauß erzählt in einer unprätentiösen Bildungsgeschichte seine Kindheit und den Alltag in einer städtischen Wohnsiedlung der Fünfzigerjahre.

In einer nebligen Dezembernacht geht der Erzähler am Ende des Journalbands "Ruhm am Nachmittag“ (2012) heimwärts zu seiner Wohnung in der Nähe des Neutors in Salzburg. Die Erinnerung führt ihn zurück in die nah gelegene Vorstadtsiedlung seiner Kindheit. Auf einmal verspürte er die "Sehnsucht“, sich "die Jahre, die so rasch vergangen waren, zu vergegenwärtigen und über die Kindheit und ihre Bühne, die Siedlung, zu schreiben“. Die "Bilder des Anfangs“ tauchten auf - "ich sah Menschen, die seit vielen Jahren tot waren, wie sie sich zu mir herabneigten und ihr Wort an mich richteten, und ich sah die Räume, auf die das Licht jener Jahre fiel, mit ihren Dingen, Grenzen, Schemen.“ Das soeben erschienene Buch von Karl-Markus Gauß, "Das Erste, was ich sah“, ist die Erzählung dieser Kindheitswelt, und auch die sprachliche Magie, mit der sie im Journalband angekündigt wird, ist nicht verloren gegangen.

Katastrophe des Krieges

"Die Kindheit und ihre Bühne, die Siedlung“ - das sind die Wohnung, der sechsstöckige Wohnblock und die Straßen der Vorstadtsiedlung, in die die heimatvertriebenen Eltern am Anfang der Fünfzigerjahre aus einer Flüchtlingsbaracke umgezogen sind. Karl-Markus Gauß, das jüngste der Kinder, der "einzige gebürtige Österreicher der Familie“, ist bereits in dem mehrstöckigen Wohnhaus und in der Gegend aufgewachsen, deren Chronist er nun mit "Das Erste, was ich sah“ geworden ist.

Ein Grundmotiv wie in den vorangegangenen diarischen Journal- und Reisebänden ist das Flüchtlingsschicksal der heimatvertriebenen Eltern und Verwandten, ein anderes ist die Katastrophe des Kriegs - die am tiefsten reichende Erfahrung im Werk von Karl-Markus Gauß. Eine Stimme als Autor bekommen, das heißt bei ihm, an die verborgene, tief in die Menschen hinein gesenkte traumatische Erfahrung der Gewalt zu erinnern und sich des Ausnahmezustands hinter den schönen Kulissen der Herrschaft bewusst zu werden. Mit Büchern über den Terror des Habsburger-Regimes gegen die revolutionären bürgerlichen Dichter und Denker und die Arbeiterrevolutionäre setzte sein Schreiben ein.

Der Blick des Kindes, dem der Autor über die Schultern schaut, registriert die vielen sichtbaren Kriegsverletzungen an den Erwachsenen, aber auch die Beschädigungen im Innern, die Andeutungen von Traumen und nie mehr gut zu machenden Verlusten, die ihm nicht verborgen bleiben. Das Buch beginnt mit einem Kapitel über die Abwesenden, die Toten des Kriegs: "DIE STIMME, wie lange spricht sie schon?“, das Kind ist allein im Wohnzimmer und hört "diese körperlose Stimme“ aus dem Radioapparat, die die endlose Namenlitanei des Vermissten-Suchdienstes in der Nachkriegszeit der fünfziger Jahre zu Gehör bringt. In diesem Schallraum der Stimme, "die keinem Anwesenden gehörte und nach zahllosen Abwesenden fragte“, wird sich das Kind seiner selbst bewusst, und wir als Leserinnen und Leser wissen, dass hier, mehr als fünfzig Jahre danach, ein Autor den lebensgeschichtlichen Ort bezeichnet, von dem sich seine literarische Stimme herschreibt.

Das letzte Kapitel erzählt die Geschichte von der Lungenkrankheit. Im wirklich Erlebten lässt der Erzähler den biographischen Mythos mitdenken: die Krankheit als Zeichen der Berufung zum Wort. Im Bett liegend, ist der kleine abgemagerte Körper des Buben von Büchern umgeben, die er "immer wieder in die Hand nehmen konnte“: "Denn etwas war in den zwei Jahren zuvor geschehen, das mein Leben veränderte und ihm die Richtung wies: Ich konnte jetzt lesen.“

"Das Erste, was ich sah“ ist von einer nachdenklichen Heiterkeit getragen, die den Abgrund kennt, über den sich das scheinbar kindliche Erzählen erhebt, und die um die Problematik der Gewalt weiß, die jeder Erziehung zugrunde liegt. Die Heiterkeit entspringt aber auch dem erzählerischen Blick für die kindliche Welteroberung, den Raumgewinn, die Überwindung der Distanzen: von der Wohnung über den Gang zum Lift, zur Haustür und hinaus, zur Sandkiste, zur Teppichstange, zu den Mülltonnen und dann zur Fußballwiese, später zu den Bussen, mit denen das Kind in die Stadt gelangt. Jeder dieser Räume hat seine eigene Magie, birgt neue Erfahrungen und bringt das Kind einen Schritt oder einen Sprung weiter. Mit den Kniekehlen auf der Teppichstange hängend, abspringen und auf die Beine kommen, mit dem Tretroller, dem "Roten Blitz“, sich einen weiteren Radius ums Haus erobern, im Fußballspielen neue soziale Kontakte herstellen, den Ball beherrschen lernen, sich mit und unter den anderen bewegen und "all die kleinen Kunststücke auszuprobieren“, das wird in kunstvollen erzählerischen Miniaturen dargestellt. Die Idee der Kunst aber wird von einem Schuster repräsentiert, der den eingerissenen Fußball näht, mit Bewegungen, die "zugleich energisch und grazil waren“, eine Tätigkeit, an der die Idee der Würde der menschlichen Arbeit und nicht zuletzt die des Erzählens selber sinnfällig gemacht wird.

Zauber durch kindlichen Blick

Ermutigend wirkt diese unprätentiöse Bildungsgeschichte aus den fünfziger Jahren, die zugleich die Geschichte des Alltags in einer städtischen Wohnsiedlung ist, weil sie dem Frei-Werden von den Eltern und dem Horizontgewinn das Wort redet, und ihren Zauber gewinnt sie durch den kindlichen Blick, der auf die seither verschwundenen Dinge fällt, die märchenhaft fern erscheinen. Damals saß der Schaffner noch im Obus "hinten in einer Art Häuschen auf seinem Thron“ und er verkaufte die Fahrkarten, "indem er dünne Blätter von einem Block zupfte, in die er dann mit einer Zange zwickte“, und wenn er sie beim Umsteigen überprüfte, "zwickte“ er "sie neuerlich mit der silbernen Zange.“ Und am Fernsten von jeder sozialen Realität liegt die Bilderwelt des ersten Lesebuchs. Die Beschreibung der Lesebuchwelt des vormodernen, agrarischen ständestaatlichen Österreich ist ein Meisterstück, dem man wünschte, dass es selbst einmal zu einem kritisch inspirierenden heiteren Schulklassiker avanciert.

Befreiendes Erzählen

Es gibt keine Erinnerungsseligkeit in dieser autobiographischen Erzählung, weil sie bewusst mit dem Mythos der Kindheit spielt, und weil sie das "Unbehagen in der Kultur“ im Auge hat, das dem heranwachsenden Menschenwesen nicht erspart bleibt. Die geheimen Gravitationszentren sind neben dem Sehen und Hören und Lesen, neben den Büchern und dem Fußball, die ersten Erfahrungen von Eros und Tod, die ersten Verwirrungen und leisen Erschütterungen durch die noch so unbedenklichen körperlichen Berührungen mit Frauen und Mädchen, und der Schrecken beim Anblick toter Tiere, die Verstörung, wenn die eintrocknende Sandburg in sich zusammensackt, und die Todesverlassenheit des Kindes in der Schneeburg, in die es von größeren Buben eingemauert wurde.

Aber aus all diesen Ängsten befreit ein Erzählen, das uns neben der Todesangst bei der Lungenerkrankung auch den letzten, so irdisch diesseitigen Wunsch des Kindes nicht vorenthält, das mitten im Fußballfeld begraben werden möchte, denn unter "der Wiese zu liegen, auf der die Freunde dem Ball nachjagten“, das verhieß ihm "mehr Leben als die Auferstehung in ferner Ewigkeit, obwohl auch die Wiese nicht immer belebt war, sondern sonntags, an Regentagen und im Winter verlassen lag und dann auch ich verlassen in meinem Grab würde warten müssen.“

Das Erste, was ich sah

Von Karl-Markus Gauß Zsolnay 2013.

108 Seiten, gebunden, € 14,90

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