Sehen mit poetischer Kraft

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Peter Handke beschreibt, was er sieht, und zeigt, dass alles Gesehene im erzählen immer schon ein Interpretiertes ist.

Im Mai 2008 verbrachte Peter Handke neuerlich eine Woche in der serbischen Enklave Velika Hoca im südlichen Kosovo, um den etwa 600 Bewohnern Fragen zu stellen und Antworten zu notieren - ein Programm, das er rasch verwirft. Zwar berichtet er auch, was viele Einzelne ihm erzählt haben, aber er tut das im Rückblick und mit der Geste des Schriftstellers, der ein poetisches Gewebe schafft, das mehr vermag als eine Reisereportage.

Handke ist ein aufmerksamer Beobachter, der sich Gegenden und Weltsichten mit Vorliebe erwandert. In Mitrovica zum Beispiel, einem der vielen neuen Grenzorte außerhalb des vereinigten Europas: Die Nordstadt diesseits des Ibar ist serbisch, jenseits liegt das albanische Kosovska Mitrovica. Handke passiert die "Tausendkioskmeile", dann die Brücke und marschiert jenseits "im Brückenrhythmus" weiter, als hätte er immer noch ein konkretes Ufer-Ziel vor sich.

Wer über solche Sprachbilder verfügt, hat jedes Recht, journalistische Sprachregelungen einmal mehr nach ihren offenen wie subkutanen Implikationen zu befragen. Etwa dass Vorkommnisse diesseits der Brücke gerne als "Ausschreitungen" firmieren und "Unruhen" heißen, sobald sie sich jenseits ereignen.

Doch Handke bezieht in diese Unschärferelationen immer auch sich selbst mit ein, und diesmal so deutlich, dass schon grobe Unsensibilität dazugehört, das nicht wahrzunehmen. Es ist eben kein Zufall, wenn ihm im albanischen Stadtteil beim Anblick von Mauerseglern die Formulierung "Demonstrationsflüge hier wie dort" in den Sinn kommt.

Unheimlichkeitslaute

In der Enklave Velika Hoca sind es dann Kuckucke, die ihm und uns eine Lektion erteilen über die Bedeutung von Standpunkt, Befindlichkeit und Erwartungshaltung. Handke wandert von Velika Hoca aus ins wenige Kilometer entfernte Nachbardorf; nach wie vor hört man die Rufe des Muezzins bzw. die Kirchenglocken der jeweils anderen, aber jeder Kontakt ist sistiert. Handke erfreut sich zunächst an den Rufen der Kuckucke, eine Hörspur, die ihm für Entgrenzung und "freie Genüge" steht. Je unübersehbarer wird, dass Wege wie Weingärten im Grenzbereich verödet sind, umso mehr werden die Kuckucksrufe zu "Unheimlichkeitslauten".

Als er das albanische Dorf erreicht, liegen die stattlichen Gehöfte ausgestorben da, nicht einmal ein Hund bellt. Dann sieht er an einem Fenster eine Greisin, die mit aufgerissenen Augen auf den Fremden starrt, "stummpanisch", "voll lautlosen Grauens". Handke kapituliert, macht sich auf den Rückweg durch das Niemandsland, und nun meint er an den verfallenen Wegrändern die Spuren von Flucht und Kampf zu sehen - "eingedrückte und gewalzte" Kleidungsstücke, ein Schuh, vereinzelte "Taschen- und (oder täuscht jetzt die Erinnerung?) Kofferreste" - und plötzlich sind die immergleichen Kuckucksrufe eindeutig "zu hören als Signale".

Es sind (Selbst-)Beobachtungen dieser Art, die Handkes neue "Nachschrift" über jeden Verdacht der Parteilichkeit erhaben machen; auch der unsachliche Vorwurf, Handke würde hier mit poetischer Autorität einen künstlichen Frieden herbeischreiben, zerschellt an diesen subtilen Bildern der Wahrnehmung und Reflexion. Auch wenn offenliegt, wem seine Zuneigung gilt, Urteile - mit Ausnahme jener über die Presseberichte - bleiben im Offenen. Er weiß, dass er letztlich von den Strukturen und Hierarchien in Velika Hoca nichts versteht, er beschreibt, was er sieht, und zeigt, dass alles Gesehene im Erzählen immer schon ein Interpretiertes ist.

Einige in diesem schmalen Band angetippte Szenen wie die Besuche am Friedhof außerhalb der Enklave kann man in Handkes letztem Roman "Die morawische Nacht" noch einmal nachlesen, daraus lässt sich viel erfahren über die poetische Kraft, die diesem Autor eigen ist wie kaum einem anderen.

Die Kuckucke von Velika Hoca

Eine Nachschrift. Von Peter Handke

Suhrkamp 2009.

100 S., kart., € 16,30

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