Martin Walser - © FOTO: APA/dpa/Felix Kästle

Sehr geehrter Herr Walser!

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Offener Brief aus Österreich zu einer sehr deutschen Debatte: Der Kontroverse rund um Martin Walser und Ignatz Bubis.

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Offener Brief aus Österreich zu einer sehr deutschen Debatte: Der Kontroverse rund um Martin Walser und Ignatz Bubis.

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Eigentlich hätte ich die Debatte, die Sie mit Ihrer Rede ausgelöst haben, nicht mehr für möglich gehalten. Zu sehr schon schien das Thema ausgereizt, glaubte man alle Argumente bereits ausgetauscht. Nicht daß man meinte, alles über die Zeit der NS-Diktatur zu wissen; natürlich konnte die historische Forschung noch Neues ans Tageslicht befördern. Aber auf grundsätzlich-geisteswissenschaftlicher, wenn Sie so wollen feuilletonistischer, Ebene sei, so mochte man doch meinen, nicht mehr viel zu sagen.

Und dann dies: eine Diskussion auf hohem intellektuellem Niveau, geführt mit einer Leidenschaftlichkeit und Intensität im deutschsprachigen Feuilleton, wie es sie schon lange nicht mehr gab, und das seit nun ziemlich genau drei Monaten.

Am 11. Oktober hielten Sie Ihre folgenschwere Rede in der geschichtsträchtigen Frankfurter Paulskirche anläßlich der Entgegennahme des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels. "Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede" nannten Sie das Ganze. Ein wenig - verzeihen Sie den Ausdruck - kokett kam mir das vor, schon vom Titel her, und dann auch beim Lesen selbst; fast postmodern: wenn alles gesagt, erzählt, geschrieben ist, dann erzählt man über die Schwierigkeit des Erzählens, dreht einen Film über die Unmöglichkeit, einen Film zu drehen ... oder hält eine Rede über die Krämpfe, die einem das Halten einer Rede verursacht.

Aber das war nur mein Eindruck beim Lesen der ersten Absätze; später, als ich mich in das in der "Frankfurter Allgemeinen" dokumentierte Gespräch mit Ihrem Kontrahenten Ignatz Bubis, dem Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, vertiefte, fand ich diese extreme Selbstbezogenheit stellenweise wieder - allerdings weniger in Form von Koketterie, denn als Mischung aus Beleidigtheit und Wehleidigkeit angesichts der Kritik. Das tat Ihren Überlegungen inhaltlich natürlich keinen Abbruch, war aber trotzdem nicht eben dazu angetan, ihre Position in der Auseinandersetzung zu stärken.

Apropos erster Eindruck: Ich gestehe, daß ich Ihre Rede erst gelesen habe, als die Diskussion darüber schon eine Zeit lang lief. Ich habe also Ihre Gedanken zuerst in der Rezeption durch andere wahrgenommen: "Moralkeule", "Drohroutine" und "Instrumentalisierung" - diese drei Worte im Zusammenhang mit "Auschwitz" hatten sich dabei vor allem festgesetzt. Als ich dann den Wortlaut der Dankesrede selbst zu Gesicht bekam, war ich, das muß ich offen sagen, nicht wenig überrascht. Deswegen, weil mir die wieder und wieder zitierten Sätze - eben jene von der "Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken" oder von "Auschwitz" als "Einschüchterungsmittel oder Moralkeule oder auch nur Pflichtübung" - nun doch in anderem Licht erschienen. Deutlicher gesagt: Hätte ich Ihre Rede bei der Preisverleihung selbst gehört oder noch vor irgendeiner Reaktion zu lesen bekommen, ich hätte erst recht nicht erwartet, daß sie Initialzündung einer derartigen Kontroverse sein würde. Denn ich hätte gedacht - oder vielleicht auch nur gehofft? - daß das, was Sie da in der Paulskirche vortrugen, cum grano salis konsensfähig sein müßte.

Gewiß, mit den schon zitierten Sätzen, mit Ihrer Kritik an Gedenkroutine und einer quasi verordneten, "politisch korrekten" Vergangenheitsbewältigung, würden Sie Widerspruch erregen, das war absehbar. Aber eben doch, so hätte ich gemeint, innerhalb eines übergreifenden Grundkonsenses; und daß beispielsweise ein anerkanntermaßen und auch von mir so eingeschätzter außerordentlich besonnener Mann wie Ignatz Bubis derart heftig reagieren würde ("geistiger Brandstifter" nannte er Sie immerhin, auch wenn er es später zurückgenommen hat), das wäre mir bei der Lektüre Ihrer Rede jedenfalls nicht in den Sinn gekommen.

Vielmehr beginnen Sie damit, daß Sie "in einer Welt, in der alles gesühnt werden müßte, ... nicht leben" könnten; und führen dann als Beispiel den Fall eines DDR-Spions an, der "nach der Wende zu zwölf Jahren Gefängnis und 100.000 Mark Geldstrafe verurteilt" wurde; und schließlich plädieren Sie dafür, für diesen "idealistisch-sozialistischen Weltverbesserer" "Gnade vor Recht" ergehen zu lassen - nicht ohne Seitenhieb auf jene Rechtslage, die "die Spione des Westens straffrei stellt ..., Spione des Ostens aber der Strafverfolgung ausliefert": "Wenn schon die juristisch-politischen Macher es nicht wollten, daß Ost und West rechtlich gleichgestellt wären, wahrscheinlich weil das eine nachträgliche Anerkennung des Staates DDR bedeutet hätte - na und?! -, wenn schon das Recht sich als unfähig erweist, die politisch glücklich verlaufene Entwicklung menschlich zu fassen, warum dann nicht Gnade vor Recht? So der Laie."

So ein geistiger Brandstifter von rechts? Wohl kaum.

Nur bleiben Sie dabei nicht stehen. Und wie Sie, so kommt es mir vor, das Gewissen dieses "idealistisch-sozialistischen Weltverbesserers" verteidigen wollten, so geht es Ihnen in Ihrer ganzen Rede hauptsächlich darum: um die Rettung der Unantastbarkeit des individuellen Gewissens, die freilich auch für die Formen des Erinnerns der nationalsozialistischen Greuel gelten muß. Die Schlüsselpassagen in Ihrer Rede scheinen mir demnach gar nicht jene über Auschwitz zu sein, sondern Ihre Reflexionen über die Gewissensfreiheit des einzelnen, die unabdingbaren Respekt fordert. Eindrucksvoll fand ich das von Ihnen in diesem Kontext angeführte Beispiel aus dem "Prinz von Homburg" von Kleist: der Kurfürst begnadigt den Prinzen, obwohl dieser "sich in der Schlacht befehlswidrig verhalten" hat, mit den Worten: "Die höchste Achtung, wie Dir wohl bekannt / Trag ich im Innersten für sein Gefühl / Wenn er den Spruch für ungerecht kann halten / Kassier' ich die Artikel; er ist frei!". "Das ist Gewissensfreiheit, die ich meine", jubelten Sie. Und in der Tat: wer wollte sich dem verweigern?

Von daher schien mir auch nachvollziehbar, was Sie am Beispiel von Thomas Mann suggerierten: der Schriftsteller, so sagten Sie bei Ihrer Rede, habe sich vor 1918 gegen Demokratie als etwas "Widerdeutsches" ausgesprochen, 1922 aber, anläßlich des 60. Geburtstages von Gerhart Hauptmann, in höchsten Tönen von Demokratie und Republik geschwärmt. Der wirkliche Thomas Mann, so setzten Sie dann fort, teile sich indes "in seinen Romanen und Erzählungen ... mit" und nicht in irgendwelchen Reden, "in denen er politisch-moralisch rechthaben mußte. Oder gar das Gefühl hatte, er müsse sich rechtfertigen." Die wahre Freiheit des Ausdrucks nehmen Sie somit für die literarische Sprache in Anspruch, während ansonsten das Diktat des Politisch-moralisch-rechthaben-Müssens herrsche.

Politisch-moralisch-Rechthaben - das Stichwort führt mich zurück zu jenen Passagen Ihrer Rede, die Gegenstand der Diskussion waren. Sie, Herr Walser, gehören ganz offenkundig nicht zu denen, die politisch-moralisch rechthaben (wollen); vielmehr sprechen Sie sarkastisch und selbstironisch von Ihrer "ungenügenden moralisch-politischen Vorstellungskraft": ungenügend, um sich von auf Empörung abzielenden Berichten über brennende Asylantenheime empören zu lassen; ungenügend, um der Diagnose eines Dichters zuzustimmen, wonach die braven Tischnachbarn "nur von Ausrottung und Gaskammern träumen". Ungenügend schließlich, um "dankbar zu sein für die unaufhörliche Präsentation unserer Schande". Statt dessen protestieren Sie gegen die "Instrumentalisierung unserer Schande" und nennen - entgegen manchen Behauptungen Ihrer Kritiker - durchaus auch Beispiele, etwa: "Jemand findet die Art, wie wir die Folgen der deutschen Teilung überwinden wollen, nicht gut und sagt, so ermöglichten wir ein neues Auschwitz."

Ich empfand es als äußerst hilfreich, als sich eine über jeden Verdacht erhabene Persönlichkeit wie der Sozialdemokrat Klaus von Dohnanyi in der Debatte zu Wort meldete. Der frühere Hamburger Bürgermeister, dessen Vater von den Nazis ermordet wurde, kam zu einem ähnlichen Befund wie Sie und sprach in der FAZ vom "allzu häufigen Versuch anderer, aus unserem Gewissen eigene Vorteile zu schlagen". Als Beispiele nannte Dohnanyi unter anderem die "Darstellung von Bundeskanzler Kohl mit Hitler-Bärtchen in der englischen Presse, als er einen harten Euro forderte" oder den "Verweis der Serben auf unsere Hitler-Vergangenheit, wenn es heute um unseren Beitrag zum Frieden auf dem Balkan geht". Vor allem aber hat Dohnanyi eine ebenso heikle wie legitime Frage - mit der notwendigen Behutsamkeit! - in die Diskussion hineingetragen: ob sich "die jüdischen Bürger in Deutschland ... so sehr viel tapferer als die meisten anderen Deutschen verhalten hätten, wenn nach 1933 ,nur' die Behinderten, die Homosexuellen oder die Roma in die Vernichtungslager geschleppt worden wären".

Da Sie in Ihrer Buchpreis-Rede auch einmal kurz die Österreicher als Schicksalsgenossen in Sachen "Instrumentalisierung" erwähnten, möchte ich Ihnen noch eine Stimme aus der österreichischen Diskussion zur Walser-Bubis-Debatte zitieren: Der Wiener Philosoph Konrad Paul Liessmann interpretierte im "Standard" Ihre Rede "auch (als) Aufschrei eines Menschen, der den Anblick von Leichenbergen nicht mehr ertragen kann". Und er fügte sarkastisch hinzu: "Wie seltsam, daß jene sich als moralisch Überlegene dünken, die diesen Aufschrei reflexartig kritisieren und sich selbst schulterklopfend versichern, noch viele Leichenberge immer wieder sehen zu wollen."

Eines noch zum Schluß: Bubis wirft Ihnen im FAZ-Gespräch vor, mit Ihrer Rede "ein Tor geöffnet" zu haben. Ich kann Ihnen folgen, wenn Sie dem entgegnen, daß es dafür Zeit war. Aber gerne hätte ich von Ihnen klar und unmißverständlich gehört, daß wir gar nicht genug darauf achten können, wer so aller durch dieses Tor hereinkommt.

Mit freundlichen Grüßen

Rudolf Mitlöhner

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