Selbstbestimmt statt transparent

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Gentests bergen die Gefahr von Reduktionismus und Diskriminierung. Dagegen bietet das Recht auf Nichtwissen den wirksamsten Schutz.

Die moderne Molekulargenetik entwickelt sich rasant. Mit diesem Tempo vermag das Nachdenken über deren Folgen nur schwer Schritt zu halten - etwa darüber, ob die neuen Handlungsoptionen auch legitim sind. Durch die Einblicke in die genetischen Grundlagen alles Lebendigen erfährt sich der Mensch in bisher ungekannter Weise als Teil der Evolution. Zugleich weiß er, dass es einen genetischen Determinismus nicht gibt: das Individuum hat ein Genom, aber es ist nicht sein Genom. Eine genetische Veranlagung zu einer Krankheit ist nicht die Krankheit selbst. Vielmehr ist deren Ausbruch von Faktoren wie Lebensführung, Umwelteinflüssen und vielem mehr abhängig. Dennoch werden Gentests die traditionelle Auffassung von Krankheit und Gesundheit in doppelter Weise verändern: zum einen, weil der genetisch Getestete ein Gesunder at a known risk, also mit einem gewissen Risiko ist; und zum anderen, weil die Einblicke in genetisch bedingte Krankheitsdispositionen zur Individualisierung der Medizin führen werden.

Philosophische Fragen treten im Hinblick auf die Genetik auf drei Ebenen auf: Was ist der besondere Status genetischen Wissens? Welches Bild vom Menschen zieht dieses genetische Wissen nach sich? Und: Sind die genetischen Handlungsmöglichkeiten, die sich aus diesem Wissen ergeben, legitim?

Genetisches Wissen ist kein Gegenstands-, sondern ein Funktionswissen, dessen Bedeutung sich überdies erst im Verhältnis zwischen Genotyp (genetische Veranlagung) und Phänotyp (äußeres Erscheinungsbild) erschließt. Auch ist genetisches Wissen seiner Natur nach interindividuell: Es betrifft möglicherweise auch die Verwandten des Getesteten. Vor allem ist zu beachten, dass genetisches Wissen prädiktiver Natur ist, also Voraussagen möglich macht; diese sind allerdings in ihrer großen Mehrheit nur als Wahrscheinlichkeitsaussagen möglich. All diese Merkmale unterscheiden genetisches Wissen vom herkömmlichen medizinisch-ärztlichen Wissen, das sich an manifesten Symptomen orientiert.

Gleichwohl kann die Vorausschau auf mögliche künftige Erkrankungen in jenen Fällen von Nutzen sein, in denen man diesen Erkrankungen präventiv oder therapeutisch beikommen kann. Hingegen kann ein solches Vorauswissen bei Krankheitsdispositionen, die präventiv oder therapeutisch (noch) nicht behandelbar sind, eine große seelische Belastung bedeuten. Hier erfährt der Mensch, der nach Aristoteles "von Natur aus Wissen erringen will", dass Wissen eine ambivalente Angelegenheit ist, und dass Nichtwissen unter bestimmten Umständen dem Wissen vorzuziehen ist.

Ende des Schicksals

Wenn die traditionelle Anthropologie den Menschen als ein Wesen begreift, das in einem Verhältnis zu sich selbst, zu Seinesgleichen und zu seiner Umwelt steht, so werden die Einblicksmöglichkeiten in das eigene Genom alle drei Dimensionen tangieren.

* Was das Selbstverhältnis des Menschen angeht, konnte der Einzelne sich bisher als genetischen "Zufall" begreifen, Erkrankungen waren vielfach "Schicksal". Jetzt aber zeichnen sich Möglichkeiten ab, die eigenen genetischen Voraussetzungen zu verändern: durch präventive Eingriffe in genetisch bedingte Krankheitsdispositionen, durch so genannte somatische Gentherapie, aber auch durch Intervention in die Keimbahn. Zugleich könnte außerhalb des therapeutischen Bereichs genetische Planung ins Spiel kommen, vor allem in Form einer biologischen "Verbesserung" bis hin zu einer neuen Eugenik.

* Verändern könnte sich auch das Verhältnis des Menschen zu Seinesgleichen, denn bisher konnte der Einzelne nicht gezielt auf die genetische Disposition Anderer Einfluss nehmen.

* Längst in Veränderung begriffen ist das Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt, wie genetische Eingriffe in Pflanzen und Tiere zeigen.

Mit alledem verändert sich die Selbstverständlichkeit, mit der sich der Mensch hinsichtlich seiner biologischen Existenzweise bisher betrachten konnte. Aus der Hinnahme seiner molekularbiologischen Möglichkeiten wird schließlich die Versuchung, seine existenzielle Wirklichkeit zu manipulieren. Seine bisherige Selbstverständlichkeit könnte sich unter dem Einfluss genetischer Einblicks- und Eingriffsmöglichkeiten in eine neue Unverständlichkeit verwandeln. Nicht erst die Frage der Legitimität solcher Handlungen, sondern bereits ihre Möglichkeit ist also geeignet, das Menschenbild nachhaltig zu verändern. Grenzziehungen sind hier nicht nur eine ethische Notwendigkeit, sondern zugleich ein Gebot der Erhaltung des Bildes vom Menschen.

Die Möglichkeit des Einblicks und Eingriffs in das Genom eines Menschen betrifft nicht nur den sensiblen Bereich der Persönlichkeitsrechte; er betrifft auch das Fundament menschlicher Freiheit und Selbstbestimmung. Beide beruhen auf der Autonomie, also der Selbstzweckhaftigkeit des Menschen. Danach ist der Mensch unverfügbar, er darf niemals und unter keinen Umständen vollständig zu einem ihm fremden Zweck instrumentalisiert werden. Der Mensch ist vom Beginn seines Lebens bis zu seinem Ende autonom in allen seinen Zuständen, ob unmündiges Kind oder durch Krankheit oder Alter eingeschränkt. Der Mensch ist autonom unabhängig davon, ob er in der Lage ist, sich selbst zu bestimmen.

Aus seinem Selbstbestimmungsrecht leitet sich die gen-informationelle Selbstbestimmung ab: Über den Zugang zu den eigenen genetischen Daten entscheidet grundsätzlich der Betreffende selbst. Dies spielt eine besonders wichtige Rolle in der Frage, ob zum Beispiel Versicherungen vor Abschluss einen Gentest verlangen dürfen. Hier wird man unterscheiden müssen zwischen Versicherungen zur so genannten Daseins- und jene zur Wohlseinsvorsorge.

Im Rahmen der Daseinsvorsorge geht es um die Absicherung vor Krankheitskosten, die das eigene Zahlungsvermögen übersteigen. Den Abschluss einer derartigen Grundversicherung von der Vorlage eines Gentests abhängig zu machen, erscheint ethisch nicht rechtfertigungsfähig. Denn es würde bedeuten, dass das Individuum vor die Alternative gestellt wird, entweder auf sein Recht auf gen-informationelle Selbstbestimmung einschließlich des Rechts auf Nichtwissen zu verzichten, um sich gegen einen möglichen finanziellen Ruin im Krankheitsfall abzusichern, oder umgekehrt ein solches finanzielles Risiko einzugehen, um sein Recht auf Nichtwissen zu behalten.

Missbrauchtes Wissen

Etwas anders liegen die Dinge, wenn jemand von seinem Recht auf Wissen durch einen Gentest bereits vor Abschluss einer Versicherung Gebrauch gemacht hat. In diesem Fall gilt es abzuwägen zwischen dem Recht des Menschen, sein Wissen über seine genetischen Anlagen nicht Dritten zugänglich zu machen, und dem Schutz anderer Versicherungsnehmer vor erhöhten Tarifen in Folge so genannter "Antiselektion". Darunter versteht man die Nutzung des eigenen, gegenüber der Versicherung geheim gehaltenen Wissens, um Versicherungsverträge zum eigenen Vorteil abzuschließen. Die Versicherungen dürften dieser Gefahr dadurch begegnen, dass sie auf ihre Prämien von vornherein einen bestimmten Aufschlag hinzurechnen. Dies aber würde die übrigen Versicherten benachteiligen und gegen das Prinzip der Gerechtigkeit verstoßen. Eine Lösung kommt weder dadurch zustande, dass der Versicherungsnehmer alles genetische Wissen, über das er aus einem Test verfügt, offenbaren muss, noch dadurch, dass das Recht der Versicherer auf Vertragsfreiheit eingeschränkt wird. Ein Ausgleich wird erst dann möglich, wenn eine unabhängige Kommission festgelegt hat, welche in Erfahrung gebrachten Krankheitsdispositionen ein Versicherungsnehmer gegenüber dem Versicherer anzugeben hat und welche nicht.

Anders liegen die Dinge, wenn es sich nicht um den Bereich der Daseins-, sondern der Wohlseinsvorsorge handelt, also um Privat- und Zusatzversicherungen. Hier gilt: So lange der Versicherungsmarkt liberal genug ist, um derartige Wohlseinsabsicherungen sowohl mit als auch ohne Gentest zu akzeptieren, wird man kein grundsätzliches Verbot von Gentests rechtfertigen können.

In Bezug auf den Arbeitsmarkt erscheint dagegen ein Zwang zum Gentest vor Abschluss eines Arbeitsverhältnisses ethisch nicht rechtfertigungsfähig. Eine Ausnahme bilden nur solche Arbeitsverhältnisse, in denen bestimmte genetische Krankheitsdispositionen entweder mit der Aufgabenstellung des Arbeitsplatzes nicht vereinbar sind oder zu Gefährdungen Dritter führen. In allen anderen Fällen gilt der Respekt vor dem gen-informationellen Selbstbestimmungsrecht als ausnahmslos geboten.

Belastendes Wissen

Auch im Bereich prädiktiver Gentests, die Aussagen über das Erkrankungsrisiko in der Zukunft treffen, ergibt sich eine Reihe von ethischen Problemen. So wird man den Zugang zu derartigen Gentests nicht allzu einfach gestalten können, will man nicht Gefahr laufen, dass die Menschen in Unkenntnis der möglichen Belastung genetischen Wissens solche Tests veranlassen. Möglicherweise wird man Gentests in Bezug auf Krankheitsdispositionen generell unter den Arztvorbehalt stellen wollen.

Eine besondere Problematik liegt auch darin, die gewonnenen Daten vor dem Zugriff Dritter zu schützen. Dies ist um so wichtiger, als ein Gentest immer auch Daten über mögliche ähnliche genetische Dispositionen Verwandter erbringt. Die Forderungen an einen wirksamen Datenschutz gewinnen hier ein ganz besonderes Gewicht.

Vor allem: Niemand darf ob seiner genetischen Veranlagung diskriminiert werden. Dieses Gebot hat einen derartigen ethischen und rechtlichen Rang, dass man in der internationalen Staatengemeinschaft zu eigenen rechtlichen Regelungen wird kommen müssen. Ein erster Schritt ist in der so genannten Bioethik-Konvention des Europarats getan, in dessen Artikel 11 festgelegt ist, dass niemand wegen seiner genetischen Veranlagungen diskriminiert werden darf.

Der wirksamste Schutz ist das Recht auf Nichtwissen. Und so mag der alte philosophische Grundsatz des "Erkenne Dich selbst" eine besondere Erweiterung erfahren: Erkenne, was Du von Dir selbst erkennen willst!

Der Autor ist Universitätsprofessor für Philosophie an der deutschen Fernuniversität Hagen

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