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Er verstand es wie kein anderer Schriftsteller, seinen literarischen Gestalten gesellschaftliche Brüche einzuformen - und starb wie viele von ihnen durch eigene Hand: Zum 100. Todestag Ferdinand von Saars.

Als der 1833 in Wien geborene Ferdinand von Saar am 24. Juli 1906 in schwerer Krankheit seinem Leben ein Ende setzte, war er ein gewürdigter Dichter Österreichs: 1890 der Franz-Josephs-Orden, 1901 das Ehrenzeichen für Kunst und Wissenschaft, 1902 die Berufung ins Herrenhaus des Parlaments. Aber nicht der offiziöse, mit Fest-und Gedenkdichtungen betraute Saar ist heute interessant, sondern der Erzähler, der es auf besondere Weise verstand, die beschleunigten historischen und gesellschaftlichen Veränderungen seiner Epoche in die Psyche und den Habitus seiner Gestalten einzuformen.

Vielfalt des Bürgers

Schottengymnasium, Kadettenanstalt, Unterleutnant: Saar verließ 1860 die Armee, um schreiben zu können. Der kalte Wind des Literaturbetriebs, Schreibblockaden und Schuldhaft wegen Zahlungsunfähigkeit brachten ihn in die Bredouille. Erst eine konzertierte Aktion des Münchner Malers Franz von Lenbach und der Döblinger Salonière Josephine von Wertheimstein befreite ihn von seinen Existenzsorgen. Mit Goethes Torquato Tasso hat ihn der einflussreiche Alfred Freiherr von Berger verglichen. Josephine von Wertheimstein, die Altgräfin Elise Salm, die ihm ein Wohnrecht auf Schloss Blansko in Mähren einräumte, und Marie von Hohenlohe waren wichtige Gönnerinnen. An den Namen in seinen Buchwidmungen werden sowohl Förderer Saars als auch Kreise seiner Leser fassbar: Ladenburg, Wertheimstein, Unger, Lieben, Todesco, Auspitz, Gomperz, Hartel und viele mehr. Es waren vor allem Familien aus dem assimilierten Judentum, welche die entscheidenden Stufen auf der sozialen Leiter schon hinter sich hatten.

Warner der Bourgeoisie

Saar teilte nicht das Vertrauen der Vertreter des so genannten "bürgerlichen Realismus" nach 1848 (darunter Gustav Freytag) in eine von bürgerlichen Wertvorstellungen getragene Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Zu wirksam war in ihm die Ideenwelt Arthur Schopenhauers, des Querschlägers gegen den Geschichtsoptimismus der Aufklärung. Mit seinen Geschichtsdramen im Hofburgtheater zu reüssieren, blieb ihm versagt. Das Stück Eine Wohltat (1887) sollte sich allerdings ein couragierter Regisseur von heute näher ansehen. In Saars Lyrik wiederum ist der Einfluss Nikolaus Lenaus unverkennbar. Es finden sich auch neue Themen (Drahtklänge, Arbeitergruß, Die Post-Elevin), aber wenig Neigung zu neuen Tönen. So ist etwa sein Gedicht Eisenbahnfahrt im selben pferdetrabenden Metrum gehalten wie Lenaus Der Postillion. Einen Erfolg in der Kritik erzielte Saar mit seinen Wiener Elegien von 1893 - es war ein Erfolg, der ihn besonders freute (und den er auch sehr nötig hatte). Einen Roman zu schreiben, hat Saar freilich nicht erwogen. Vielmehr lernte er nach und nach, dass seine Stärke in der kürzeren epischen Form, der Novelle, lag.

Das Widmungsgedicht einer seiner bekanntesten Novellen, Die Steinklopfer (1874), richtete er an Josephine von Wertheimstein, das aber bezog sich auf ihre Wohlfahrts-Spendenfreudigkeit, nicht auf etwaigen direkten Kontakt mit den Erniedrigten und Depravierten der Ära. Diese fremde , neu entstandene Welt ihr und anderen Standesgenossinnen und-genossen der Bourgeoisie näher zu bringen, sah er als seine Aufgabe an.

Sozialkämpferische Ideen hat Saar nicht vertreten, doch gibt es von ihm Gedichte (An die Starken, Beati possidentes), die man als Warnungen an die staats-und gesellschaftstragende Schicht zu lesen hat, die Kluft zwischen Reichtum und Armut nicht so tief werden zu lassen, dass die Proletarier ihr Heil in der Revolution suchen. Kontraste heißt denn auch eines seiner eindringlichsten Gedichte. Oben in einer Opernschule probt man Beethovens Vertonung von Schillers Ode An die Freude, unten fallen übermüdete Straßenarbeiter in einen kurzen, schweren Mittagsschlaf. Das "Seid umschlungen, Millionen!" können sie nicht hören.

Für den späteren Saar kam es als Überraschung, dass ihm, auch aus Anlass seines 60. Geburtstages, von den Dichtern des "Jung-Wien", den "Modernen", gehuldigt wurde. In Henrik Ibsens Erfolg in Wien, von dem er glaubte, er schmälere seinen eigenen, erkannte er einen literarischen Generationsbruch. Trotzdem: Das Wort vom "Übergang", als den er sich selbst sah, hat seine Berechtigung. So war er auch im 7. Heft des 1. Jahrgangs der Zeitschrift Ver Sacrum, dem Periodikum der Wiener Sezession, mit einem von Josef Maria Auchentaller floral ornamentierten Gedicht vertreten.

Der Menschenkenner

Zu Saars besonderen Qualitäten gehörte es, Menschen zu gestalten, deren individueller Sensibilität, psychischem Habitus und Lebensproblematik die geschichtliche Signatur der Zeit eingeschrieben ist. Seine periodischen Abwesenheiten von Wien schärften seine Wahrnehmung für Veränderungen. Das gilt besonders für die Jahre, in denen die ökonomischen Aufsteiger der Gründerzeit eine "new economy" betrieben, die durch den Börsenkrach von 1873 zwar schwer diskreditiert, aber keineswegs beendet wurde. Im Schlusstableau der Novelle Geschichte eines Wiener Kindes (1892), in der er den Weg einer schönen Frau aus einer Mittelstandsehe in die Verbindung mit einem dubiosen "Gründer" schildert, veranschaulicht Saar, dass bloßes Haben und Tauschen, der nackte ökonomische Liberalismus also, keine persönlichkeitserfüllende und auch keine gesellschaftsintegrierende Kraft haben.

Mit Vae victis! (1883) schrieb Saar eine Novelle, in der er den Bau der Ringstraße mit ihren Ikonen der neuen Zeit verwebt mit dem Zerbrechen einer Ehe. Der Mann ist ein General aus dem Ancien Régime, die Frau ist von der neuen Ringstraßen-Gesellschaft fasziniert. So wie die Ringstraße an die Wohnung der beiden Eheleute heranwächst, so okkupiert gleichsam die neue Oberschicht das Lebens-Terrain des Generals. Während einer Soirée, die ihm Gewissheit darüber verschafft, dass er sowohl als Vertreter der alten Zeit als auch als Ehemann verdrängt worden ist, geht er in sein Zimmer und schießt sich "mit geübter, sicherer Hand eine Kugel ins Herz". (Die schmerzgeschüttelte Hand des unheilbar kranken Saar traf am 24. Juli 1906 nicht so sicher; er starb erst drei Tage später.)

Die vor Arthur Schnitzler eindrucksvollste Schilderung des jüdischen Assimilationsprozesses, die es in der deutschsprachigen Literatur der Zeit gibt, ist Saars Novelle Seligmann Hirsch (1889). Es ist die Geschichte eines alten Juden, der als Händler und Finanzmann viel Geld verdient, allerdings auf der Börse wieder verspielt hat. Sein Sohn, dem er den Weg ins Bankwesen geebnet hat, betreibt - angespornt von seiner Frau - die Aufnahme in den Adelsstand. Der Alte, der die Verhaltensweisen eines Städtel-Juden noch nicht, wie sein Sohn, abgelegt hat, ist dabei ein Hindernis und soll zu Freunden nach Venedig abgeschoben werden. vergeblich wehrt sich Seligmann Hirsch dagegen, seine Enkelkinder, die er abgöttisch liebt, zu verlassen. In Venedig, so erfährt man am Schluss der Novelle, hat er Selbstmord begangen - als ein Opfer der jüdischen Assimilation in Wien.

Die Qualität der Novelle liegt vor allem in der Wandlung des Ich-Erzählers. Saar schildert zunächst dessen ablehnende Haltung gegenüber dem laut und anstößig auftretenden Juden und führt ihn hin zu einer verstehenden, ja sympathetischen Haltung. Vom halben Mit-Tun durch parteiliches Mit-Hören, wenn der alte Jude durch die tarockierenden Bürger eines steirischen Kurorts gedemütigt wird, gelangt er zur Teilnahme am Schicksal eines schwer Getroffenen. Die "sozio-psychologische Exaktheit" dieser Figurenzeichnung (Egon Schwarz) ist zu Recht gerühmt worden.

Psychologie des Gartens

Der amerikanische Kulturhistoriker Carl E. Schorske hat die kulturellen und politischen Veränderungen im Österreich der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts am Beispiel des Gartens als Schauplatz und Motiv in der Literatur herausgearbeitet. Die Ablösung einer rational bestimmten Kultur (dafür steht etwa der Garten in Stifters Nachsommer) durch eine psychologisch bestimmte (z.B. Der Garten der Erkenntnis bei Leopold von Andrian) lässt sich auch innerhalb von Saars Erzählwerk darlegen. Beispielhaft sind die Novellen Marianne, Das Haus Reichegg und Schloß Kostenitz.

Marianne (1873) ist eine Briefnovelle, die an Goethes Briefroman Die Leiden des jungen Werthers erinnert. Im Biedermeier-Garten eines Vorort-Hauses keimt die Liebe des Brief-Erzählers zur verheirateten Marianne auf, aber nicht im Garten, sondern an einem anderen Ort, nach einem leidenschaftlichen Tanz, endet diese Liebe mit dem Tod der herzkranken Frau. - Das ist in der Novelle Das Haus Reichegg (1877) ganz anders. Der Graf Reichegg sieht durch die schrittweisen Veränderungen des Staatswesens die Ideale der verhassten Französischen Revolution Fuß fassen, der politische Liberalismus beginnt, das festgefügte Bündnis von Thron und Altar aufzulösen. Die Frau des Grafen, eine renommierte Schönheit, verkörpert - das ist bei Saar des Öfteren so - die ordnungssprengende Macht der Sexualität, daher wird sie vom Ich-Erzähler auch als "eine Art Messalina" bezeichnet. Er sieht sie in ihrem Salon in genau jener Körperhaltung halb liegend sitzen, in der Hans Makart die berühmte Tragödin Charlotte Wolter als Messalina in Adolf Wilbrandts Erfolgs-Tragödie, Arria und Messalina (1875), gemalt hat. Die Gräfin hat beide Augen auf den Mann geworfen, der ihrer Tochter Raphaela, der Sympathieträgerin der Novelle, zugedacht war - es ist ein lockerer Rittmeister außer Dienst. Am Nachmittag, auf einer Kahnfahrt auf dem Schlossteich, bringt dieser Rittmeister mutwillig das Boot ins Schwanken. Der am Ufer zusehende Graf kann zwar mit scharfer Stimme die Szene beenden - aber nicht verhindern, dass sich im schwankenden Boot metaphorisch das Ende des Hauses Reichegg abzeichnet. Der dazu ausersehene Schauplatz ist der Park, den Tochter Raphaela mit Hingabe gestaltet hat, der denn auch bei Tag ein Bild symmetrischer, "vernünftiger" Ordnung bietet.

Tod in Venedig

In der folgenden Nacht jedoch ist alles anders: Unfreiwillig belauscht der Erzähler nicht nur "geheimnisvolle Laute" aus der Tiefe des Teichs herauf - so ganz anders "geheimnisvoll" als das Schimmern der Akazienblüten im Garten von "Marianne" -, sondern der nächtliche Garten zieht ihn auch immer stärker in dunkle Laubengänge hinein. Schließlich wird er Zeuge, wie das Dunkel des Gartens und die Tiefe des Teichs das psychische Labyrinth der menschlichen Instinkte symbolisieren. Die Gräfin verführt den Rittmeister, zerstört durch diesen Ehebruch die Familie, der Graf muss den Sieg des Liberalismus erleben, die betrogene Tochter führt im Weiteren mit hingebungsvoll-fester Hand ein Spital, der Rittmeister fällt bei Königgrätz, und die Gräfin gerät an einen abgetakelten Musikvirtuosen. Der Erzähler beobachtet in Venedig, wie die beiden eine Gondel besteigen, "wie von einem Sarge umschlossen". Die damalige Kahnfahrt auf dem Schlossteich findet Fortsetzung und Abschluss in einer Fahrt in den Hades. Eros führt zu Thanatos.

In Saars bekanntester Novelle Schloß Kostenitz (1893), dem eindringlichsten Beispiel für seine Kunst, Merkmale der Gattung Novelle einzusetzen, gehören die Figuren in die Zeit nach 1848; sie sind gleichzeitig aber auch Figuren des anbrechenden Fin de Siècle. Ein liberal gesinnter Freiherr, während der Revolution von 1848 in Staatsdiensten, aber unbedankt ausgeschieden, zieht sich mit seiner jungen und feinnervigen Frau Klothilde auf sein Schloss in Mähren zurück. Was in Adalbert Stifters Roman Der Nachsommer in umrisshaft angedeuteter Utopie gelingt, nämlich die Sublimierung von unkontrolliertem, "unvernünftigem" Lebensdrang hin zu Gartengestaltung, Wissenschaft und Kunstbetrachtung, ist zwar noch Absicht des Ehepaars, lässt sich jedoch nicht mehr verwirklichen. Ein Rittmeister, mit seiner Schwadron auf dem Weg nach Ungarn, nimmt Quartier im Schloss. Er begrüßt es, dass nach der Niederschlagung der Revolution in Wien der vom Kaiser zu Hilfe gerufene Zar den ungarischen Revolutionären die "Knute" zeigt. Klothilde, die schon in Wien eine Vorliebe für alles Militärische offenbart hat, entdeckt in sich eine "Untiefe", die sie vor sich selbst verheimlicht hat. ("Halbes heimliches Empfinden" heißt es über das Lebensgefühl der Jungen in Hofmannsthals Prolog zu Schnitzlers Anatol von 1892 - und ist eine nahe liegende Assoziation.) Klothilde beobachtet, wie der Rittmeister sein ungehorsames Pferd zähmt und dabei von der Peitsche Gebrauch macht: Eine Schlüsselszene in novellistischer Aufgipfelung.

Femme fragile

Die sinnlich-physische Stärke, die der - mit seinem Pferd zu einem Zentaur verwachsen scheinende - Rittmeister ausstrahlt, deutet auf politische Gewalt, die Peitsche steht auch für die Knute des Zaren. Klothilde, die diese Szene vom Fenster aus beobachtet hat gesteht sich "in der Tiefe der Seele ein", dem Grafen begegnen zu wollen. Als es jedoch so weit ist - "halb bewußt" hat sie ihre Schritte in den Park gelenkt -, entzieht sie sich, vor sich selbst erschreckend, der eindeutigen Annäherung des Rittmeisters, die sie doch gewünscht hat. Der von ihr lediglich in halb verdrängten Gedanken antizipierte Ehebruch stößt sie nichtsdestoweniger in ein Nervenfieber, an dem sie stirbt. Geheimer Wunsch und ältere Moralvorstellungen bilden eine unlösbare Dissonanz, die die schöne Nervosa nicht erträgt. Es ist eine dramatische Ironie in Personenkonstellation und Handlungsgang: Der Gegner der Revolution und Mann des von Klothilde mit Sympathie bedachten Militärs hat ihr, der Frau vom Typ der "femme fragile" der Wiener Moderne, den Tod gebracht.

Geschichte und Pychologie in einem mentalitätshistorischen Übergang: An solche Erzählkunst reicht keine Geschichtsschreibung heran, auch nicht die so genannte Psychohistorie. Auch im Jubiläumsjahr Sigmund Freuds verdient also der Erzähler Ferdinand von Saar unsere Aufmerksamkeit.

Der Autor ist Professor für Germanistik an der Universität Salzburg.

Buchtipp:

Ferdinand von Saar

Richtungen der Forschung

Gedenkschrift zum 100. Todestag

Hg. v. Michael Boehringer. Praesens Verlag, Wien 2006, 205 S., geb., E 25,-

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