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Seit Jahrzehnten provoziert, irritiert und fasziniert der amerikanische Autor Philip Roth. Dieser Tage feiert er seinen 70. Geburtstag.

Marcel Reich-Ranicki hält ihn für einen der größten Schriftsteller unserer Zeit. Nun muss man nicht unbedingt den Einschätzungen des Literaturpapstes folgen. Doch - um es unüblich zu beginnen - allein quantitativ gehört Philip Roth zu den auffälligsten und gewichtigsten zeitgenössischen Autoren: fast fünfeinhalb Tausend Seiten umfassen die deutschsprachigen Ausgaben seiner Werke, die mir vorliegen. Unzählbar sind die Preise, die er bis heute erhielt, darunter so renommierte wie der National Book Award, den er gleich zweimal bekam (1960 und 1995), der Pulitzer Preis (1998), der Franz-Kafka-Literaturpreis (2001) etc. Der Nobelpreis steht noch aus. Aber wer will schon die Qualität schriftstellerischer Leistungen mit solchen Zahlenangaben belegen. Geht es ja bei der Einschätzung, einer der größten Schriftsteller zu sein, viel mehr um den literarischen Kosmos, den Philip Roth in seinen Romanen über Jahrzehnte hinweg erschrieben hat.

Sex und nochmals Sex

Philip Roths Werke haben ihre Quellen, wie sollte es anders sein, im eigenen Leben. Der amerikanische Jude, dessen Vorfahren aus Galizien kamen, wurde am 19. März 1933 in Newark, New Jersey, USA geboren. Er studierte Literaturwissenschaften und lehrte Literatur und Creative Writing. Um diese Themen kreisen auch seine Werke: Literatur, Judentum, Amerika. Themen, die zu Literarisierungen wurden, die auf sein reales Leben zurückwirkten und auf das Leben anderer. Nicht immer zur Freude von Bekannten und Verwandten.

Denn Roth provoziert. Nichts ist zu unappetitlich oder zu anrüchig (wie etwa in "Portnoys Beschwerden" oder "Sabbaths Theater"), um beschrieben zu werden. Roths Darstellungen lassen kein Detail verschämt aus. Sie lenken den Blick radikal auf das Leben. Roths Romanfiguren sind fixiert auf Geschlechtsorgane und -akte. Ihre Sucht nach sexueller Befriedigung, die unersättliche Gier nach Lust, die nie und mit niemanden voll und ganz befriedigt werden kann, wird zum Ausdruck einer nie zu beendenden Suche nach Glück, einer immerwährenden Sehnsucht.

Aber auch sonst lässt Philip Roth keine Tabus gelten. Weder ist seine eigene jüdische Herkunft vor ihm sicher, noch der amerikanische Traum, von moralischen Werten gar nicht zu reden. Immer wieder kreist er um die Identität, die ihn als amerikanischen Juden besonders beschäftigen muss und die einer permanenten Selbstbefragung ausgesetzt ist. In das Leben seiner erschriebenen Figuren brechen Schicksalsschläge herein, die das Leben umkrempeln.

Einmal eingetaucht in eine der Rothschen Welten - die durchdrungen sind von literarischen Verweisen von Kafka bis Dostojewskij, bis sich Literatur und Leben verschränken - begegnet man immer wieder denselben Personen. Vor allem der Literaturprofessor David Kepesh und der Schriftsteller Nathan Zuckerman sind schon (immerhin über Jahrzehnte) alte Bekannte.

Der Literaturprofessor

In einigen Romanen treibt David Kepesh sein Wesen, eine Figur, die allerdings auch nicht immer dieselbe zu sein scheint. Aber wir sind ja in der Fiktion, nicht im Leben. In "Die Brust" (1972) verwandelt sich der sexhungrige Kepesh - in Anlehnung an Franz Kafkas "Verwandlung" - in eine Brust. Mehr über ihn erfährt der Leser im Roman "Professor der Begierde" (1977). Und siehe da, Jahrzehnte später taucht, wie sein Autor selbst gealtert, der umtriebige Literaturprofessor im neuesten Roman "Das sterbende Tier" wieder auf. Das Wichtigste an Consuela Castillo, 24 Jahre, war ihr Busen - zumindest für den mittlerweile 62-jährigen Kepesh, der sich am Ende seiner Seminare gerne Studentinnen anlacht. Doch der Sexualität wird brutal ein Ende gesetzt - durch drohenden Tod. Jahre, nachdem die Beziehung ihr Ende fand, taucht Consuela, jetzt 32, wieder auf und hat Brustkrebs. Roth verknüpft diese individuelle Geschichte mit Rückblicken auf eine kollektive: auf die - so Roth - größte Revolution aller Zeiten: die sexuelle - und ihre Wende, die sie durch das Aufkommen von Aids unweigerlich genommen hat.

Bekannter als David Kepesh ist vielleicht die literarische Figur Nathan Zuckerman, von der Literaturkritik meist das alter ego Philip Roths genannt. Diese Romanfigur, Schriftsteller und Erzähler, erlaubt Roth das, was er am liebsten tut: die Grenzen zwischen Fiktion und Realität verwischen, nein: er verwischt nicht, er klärt, indem er aufzeigt, wie konstruiert angebliche Realitäten sind. Dafür ist Nathan Zuckerman gut geeignet, wir erfahren sozusagen alles aus zweiter Hand. Im Roman "Der Ghost Writer" (1979) noch ein junger angehender Schriftsteller veröffentlicht Nathan Zuckerman in "Zuckermans Befreiung" (1981) ein Buch, in dem er mit seiner jüdischen Herkunft abrechnet. Nach Erscheinen - so Zuckerman - werden Buch und Wirklichkeit verwechselt. Doch auch die angebliche Realität - auf Romanebene - wird zur Fiktion, wenn etwa Fidel Castro höchstpersönlich dem Schriftsteller einen Star ausspannt. Auch in "Die Anatomiestunde" (1983) versucht Zuckerman vergeblich, sich von der Herkunft weg zu schreiben, was ihn immer mehr mit ihr verbindet. Die Infragestellung der Realität erreicht ihren Höhepunkt, wenn Roth in seiner "Autobiographie eines Schriftstellers" (1988) jene "Tatsachen", die er als real behauptet und die dem Buch den Titel geben, schließlich durch Nathan Zuckerman (!) prüfen lässt. Dieser meint, der Autor solle lieber Fiktion schreiben: Sie sei wahrheitsgetreuer. Hauptperson in "Täuschung. Ein Roman" (1990) ist wiederum ein Mann namens Philip Roth und in "Operation Shylock" (1994) taucht sogar noch ein anderer Philip Roth auf, ein Doppelgänger.

Amerika literarisiert

Nun mag manch einer das Spiel mit Fiktionen nur als eine interessante Denksportaufgabe für die Literaturwissenschaft empfinden. Doch verdeutlicht Roth gerade damit die Konstruiertheit so mancher Realitäten und Identitäten - was auch durchaus politische Implikationen hat. Ein wesentliches Element in Roths Texten ist die Verbindung von privatem Schicksal und Lebensläufen mit konkreter Zeitgeschichte. Besonders deutlich wird diese in seiner Roman-Trilogie, die den Vietnamkrieg ebenso einbettet wie die McCarthy-Ära oder zuletzt die Clinton-Affäre und damit eine einzigartige Literarisierung amerikanischer Nachkriegsgeschichte darstellt.

So wird im (auf deutsch) gleichnamigen Roman das "amerikanische Idyll" (1997) zerstört. Nathan Zuckerman recherchiert die Geschichte des Juden Seymour Leov, dem das Glück hold scheint - bis das Schicksal zuschlägt. Die Tochter wird Terroristin und verschwindet in einer Sekte. Die Erzählung vom Traum eines idealen Amerikas und seiner Zerstörung passiert vor dem Hintergrund von Vietnam. Dabei erscheint auch hier nicht ganz klar, was recherchiert oder phantasiert wird: Zuckerman, inzwischen nach einer Prostata-Operation impotent und inkontinent, erzählt die "Tragödie des Menschen, der auf Tragödien nicht vorbereitet ist."

Trotz aller offensichtlichen Verwirrspiele und Fiktionalität entkam Roth nie den Versuchen der Leser, seine Literatur auf sein Leben hin zu lesen. Besonders offensichtlich wollte man die Parallelen in seinem Roman "Mein Mann, der Kommunist" (1998) erkennen. Das Ende der Ehe mit der Schauspielerin Claire Bloom und ihre Enthüllungen über seine Person und ihre gemeinsame Beziehung wurde von Roth wieder literarisiert zu einer Ehe-Geschichte von Betrug, Täuschung und Rache vor dem Hintergrund der sogenannten McCarthy-Ära, der Verfolgung von Kommunisten und dem Beginn des Kalten Krieges.

Identitäten konstruiert

Der Konstruktion von Identität, den Lebenslügen und Masken spürt grandios sein vielleicht bester Roman "Der menschliche Makel" (2000) nach, der letzte Teil seiner Trilogie. Nathan Zuckerman trifft Coleman Silk und schreibt dessen Geschichte. Dieser angesehene Literaturprofessor hat in jungen Jahren seine Identität geändert und sich als hellhäutiger Schwarzer zu einem Weißen gemacht, dafür sogar die Fäden zu seiner Familie durchschnitten. Die Ironie der Geschichte: gerade er wird wegen angeblicher rassistischer Äußerung aus dem Universitätsdienst getrieben. Diese Geschichte eines Mannes, der sich aus seiner Geschichte befreien will und sich ein andere gibt, ist keine reine Erfindung, sondern inspiriert von einem tatsächlichen Fall der Identitätsverheimlichung. Auch die übrigen Figuren versuchen in diesem Land der Möglichkeiten andere zu sein, sei es die junge Geliebte Faunia, einst vom Stiefvater misshandelt, sei es ihr vom Vietnamkrieg traumatisierter Ex-Mann. Im Erschaffen verschiedenster Lebensläufe erweist sich Roth als besonderer Meister.

Literatur kämpft gegen vorgebliche Wirklichkeiten an, formt sie mit Phantasie um und erweitert so die Perspektiven des Lesers. Ein Anliegen, das dem nunmehr 70-jährigen Autor am Herzen liegt. Literatur ist Leben, meint Philip Roth. Aber vielleicht heißt er auch Nathan Zuckerman, wer weiß.

Das Sterbende Tier

Der menschliche Makel

Romane von Philip Roth, erschienen im Hanser Verlag.

Alle übrigen Titel sind als rororo-Taschenbücher erhältlich.

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