"Sich der Geschichte STELLEN"

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Mit ihren Forschungen über "Berufsverbrecherinnen" im KZ Ravensbrück bringt Sylvia Köchl Licht in ein bisher unbekanntes Kapitel der NS-Zeit.

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Mit ihren Forschungen über "Berufsverbrecherinnen" im KZ Ravensbrück bringt Sylvia Köchl Licht in ein bisher unbekanntes Kapitel der NS-Zeit.

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Am 12. März jährt sich die nationalsozialistische Machtergreifung zum 79. Mal. Bis heute ist über die KZ-Häftlingsgruppe der "Berufsverbrecherinnen" fast nichts bekannt. Die Politikwissenschaftlerin Sylvia Köchl rekonstruierte nun die Biografien von acht betroffenen Frauen.

DIE FURCHE: Sie haben sich mit Ihrem Buch "Das Bedürfnis nach gerechter Sühne" ein heikles und tabuisiertes Thema vorgenommen: NS-Gewalt gegen sogenannte "Berufsverbrecherinnen". Wie schwierig war es, dieses Thema zu erforschen?

Sylvia Köchl: Über die Häftlingsgruppe der "Berufsverbrecherinnen" liegen überhaupt keine Selbstzeugnisse vor, und für eigene Interviews mit betroffenen Zeitzeuginnen ist es leider längst zu spät. Daher konnte ich nur mit Archivmaterial arbeiten. Auch in der Ravensbrück-Forschung hat sich bis dahin kaum jemand für jene Frauen interessiert, die als "Berufsverbrecherinnen" verfolgt wurden. Hier stellt sich die Frage: Wer von den Zeitzeugen durfte sprechen, welche Erzählungen und Themen waren von Interesse? Dazu kommt: Es ist eine Frage der Erinnerungspolitik, wann welche Forschung finanziell unterstützt wird.

DIE FURCHE: Woran könnte das bisherige Desinteresse liegen?

Köchl: Mit den "Berufsverbrecherinnen" werden mehrere stark tabuisierte Themen mittransportiert. Die mit dem "grünen Winkel" als "kriminell" gekennzeichneten KZ-Häftlinge haben bis heute ein "Imageproblem". Als resistent erwies sich die unzutreffende Auffassung vieler politischer Häftlinge, die "asozialen und kriminellen Vorbeugehäftlinge" seien in die KZs eingeliefert worden, um die politischen Häftlinge zu drangsalieren. Innerhalb der von politisch Verfolgten gegründeten Selbstorganisationen der Überlebenden war diese KZ-Häftlingsgruppe geächtet. Und die meisten überlebenden "Berufsverbrecherinnen" schwiegen bzw. kamen nicht zu Wort.

DIE FURCHE: Sie schildern im Buch auch politische Widerstände gegen Ihre Forschungen.

Köchl: Im Rahmen des früheren Projekts "Zwei Frauengeschichten als Präsent für Wels" haben eine Kollegin und ich verschiedene Politiker gefragt, ob sie die Geschichten von KZ-Überlebenden, die als "Berufsverbrecherinnen" gehandelt wurden, als wichtigen Teil der Welser Geschichte empfinden. Wir bekamen 15 schriftliche Antworten, von denen zehn eher positiv und unterstützend ausfielen, drei eher ausweichend und zwei eindeutig ablehnend. Ein ehemaliger FPÖ-Funktionär schrieb uns, er könne in der Geschichte der beiden Frauen "keine spezifische" NS-Verfolgung erkennen. Für uns aber war die Frage nach der öffentlichen Anerkennung dieser Frauen als KZ-Opfer zentral, denn dahinter stand die Frage, ob die Politiker für eine Änderung des Opferfürsorgegesetzes eintreten würden.

DIE FURCHE: Wieso steht es um die Rehabilitation dieser Opfergruppe so schlecht?

Köchl: Wenn NS-Opfer vorbestraft waren, haben sie bis heute keinen Anspruch auf Opferfürsorge. Besonders Eigentumsdelikte schließen viele von der Opferfürsorge aus. Auch wenn diese Opfer nach der Befreiung 1945 körperlich und psychisch am Ende waren, gab es keine finanzielle Abgeltung, um ihr Leiden anzuerkennen. Die Abschaffung dieses Paragraf 15 im Opferfürsorgegesetz würde die Republik nicht viel kosten, weil es kaum mehr lebende Opfer gibt. Es wäre eine wichtige symbolische Geste, auch für die Nachfahren, dass ihre Vorfahren als Opfer anerkannt werden -wenn auch posthum.

DIE FURCHE: Wer genau waren jene als "Berufsverbrecherinnen" Klassifizierten?

Köchl: Die Nazis übernahmen Diskurse rechtsextremer Kriminalisten und konzipierten die "vorbeugende" Verbrechensbekämpfung. Dazu wurden Menschen als "Berufsverbrecher" klassifiziert und in "Vorbeugungshaft" genommen, also in einem KZ interniert und mit dem "grünen Winkel" gekennzeichnet. Die betroffenen Frauen in meinen Recherchen waren wegen Delikten wie Diebstahl, Betrug oder Abtreibung vorbestraft. Bevor sie ab 1938 von der Kriminalpolizei ins KZ Ravensbrück deportiert wurden, hatten sie ihre Strafen alle bereits abgesessen. Derzeit geht man von mindestens 1100 betroffenen Frauen in Ravensbrück aus, eine vergleichsweise kleine Gruppe, denn die Männer wurden zu zehntausenden Opfer dieser NS-Praktik.

DIE FURCHE: Sie zeichnen die Lebensgeschichten von acht betroffenen Frauen nach. Wie ist es für diese ausgegangen?

Köchl: Nur vier haben überlebt, die anderen vier wurden im KZ ermordet. Bei einer Frau gab es keinen Eintrag im Totenbuch in Ravensbrück. In meinen Recherchen bin ich auf den Pfarrer in ihrem Geburtsort gestoßen, der im historischen Taufbuch einen Eintrag fand, dass sie in Ravensbrück gestorben ist. Es gibt eine große Gruppe von Frauen aus Österreich, deren Verbleib unklar ist.

DIE FURCHE: Die vielleicht erschütterndste Fallgeschichte in Ihrem Buch ist jene von Rosina Schmidinger, die 1938 bereits 68 Jahre alt war.

Köchl: Als ausgebildete Hebamme arbeitete sie in der Linzer Frauenklinik. In den Zwanzigerjahren wurde sie erstmals wegen Beihilfe zur Abtreibung verurteilt, 1929 wurde ihr die Berufsausübung verboten. Trotzdem hat sie in den Dreißigerjahren auf eigene Faust Abtreibungen vorgenommen, wohl aus wirtschaftlicher Not heraus. Nach der Machtübernahme der Nazis wurde sie vorsichtiger, hat aber weitergemacht. Schließlich ist sie aufgeflogen und in Linz vor das Sondergericht gestellt worden. Mit ihr wurden sämtliche Frauen, die bei ihr abtreiben ließen, sämtliche Mitwisserinnen und Mittäterinnen angeklagt. Die Staatsanwaltschaft hat für Rosina Schmidinger die Todesstrafe beantragt wegen "fortgesetzter Schädigung des deutschen Volkskörpers". Letztlich wurde die Frau mit 74 Jahren vom Gefängnis aus in das KZ Ravensbrück deportiert. Das war im Jahr 1944, als das Lager bereits komplett überfüllt war und unbeschreibliche Zustände herrschten. Knapp zwei Monate nach ihrer KZ-Einlieferung ist sie gestorben.

DIE FURCHE: Wäre es nicht interessant, die Nachfahren der Frauen zu interviewen?

Köchl: Das wäre ein sehr dankbares Folgeprojekt. Leider fehlen mir dafür die Kapazitäten. Man müsste aber zu jedem Kapitel der österreichischen Kriminalpolizei während der NS-Zeit ein eigenes Forschungsprojekt einreichen, da ist noch viel im Dunkeln. Denn an die Namen der betroffenen Frauen gelangt man praktisch nur über die historischen Haftbücher der Polizei. Doch in acht der 14 Bundespolizeidirektionen sind die Haftbücher aus der NS-Zeit nicht archiviert bzw. nicht zugänglich. Besonders ärgerlich: Die Haftbücher der Polizeidirektion Wien sind nicht einsehbar. Man würde nicht glauben, was bis heute noch alles an Aktenbeständen auftaucht. Vielleicht braucht es einen Generationswechsel in der Polizeiführung, um zu sagen: Warum kann man sich anno 2017 nicht der Geschichte stellen? Weil die Kripo-Beteiligung so unterbelichtet ist, weiß man von den Tätern zu wenig - und so geraten auch die Opfer aus dem Blick.

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