Sie hält Skepsis, Geist und Hoffnung wach

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Plötzlich sind Menschen, die einem gefehlt haben, ohne dass man sich dessen bewusst war, wieder da. Vollkommen gegenwärtig. Ilse Aichinger zum Beispiel, die immer von ihrem Wunsch nach Verschwinden geschrieben und gesprochen hat: "Vielleicht besteht mein Jubel darin, dass ich unauffindbar bin." Jetzt ist sie wieder auffindbar geworden, angestoßen durch ihren Geburtstag. Die Tür zu den Räumen ihrer in Genauigkeit destillierten Sätze hat sich wieder einen Spalt breit geöffnet. Und man spürt erstaunt die scharfe und unverbrauchte Frische literarischer und geistiger Gültigkeit ihres Werks. Verbrauchte Worte wie Angst oder Hoffnung bekommen neues Gewicht, weil sie ein Leben lang fern dem Gerede gehütet sind, eine Währung gedeckt mit Schweigen. Fast siebzig Jahre alte Sätze erscheinen plötzlich zeitlos und sind von aktueller Brisanz, die schaudern macht. Manche dieser Sätze, etwa aus ihrem einzigen Roman "Die größere Hoffnung"(1948), werden heute zu einem Menetekel: "Wer ist fremder, ihr oder ich? Der hasst, ist fremder als der gehasst wird, und die Fremdesten sind, die sich am meisten zuhause fühlen." Und wenn zu ihr fünfzig Jahre später "einer sagt, ich solle mich nicht sorgen, dann soll er mir sagen, was ich statt dessen machen soll." Politik? Ja. Im genaueren Hinsehen auf das, was geschieht. Motiv und Hintergrund ihres Entschlusses zu schreiben waren das Erleben des Krieges, des Terrors des Nationalsozialismus und die Ermordung nächster Verwandter. Aichinger war, wie sie es nennt, "anerkannter Mischling". Ihre Großmutter Jüdin. Prägende Gestalten waren Hans und Sophie Scholl. Sie hatte deren Namen zum ersten Mal gelesen, als sie bereits hingerichtet waren. Von den Wörtern und Sätzen in den Flugblättern der "Weißen Rose" sprang, wie sie sagt, eine unüberbietbare Hoffnung auf junge Menschen über. Literarisch war es sicher ihr bereits 1972 verstorbener Mann Günter Eich, mit dem sie "im Dialog gelebt und geschrieben" hat. Literatur darf nicht allzu rasch durch Erklärung entschärft werden, "damit die seltsamen Dinge seltsam bleiben", heißt es in "Engel in der Nacht". Auch wenn Aichingers Gedichte und viele ihrer Hörspiele, Erzählungen und aphoristischen Aufzeichnungen oft als kaum lösbare Rätsel erscheinen, halten sie dennoch drei lebenswichtige Kräfte wach: die Skepsis, den Geist und die Hoffnung. "Sie sind schwer zu lesen", gibt sie vor dreißig Jahren in einer der ersten Sendungen der Radioreihe "Menschenbilder" zu, "und für den, der sie schreibt, sind sie schwer zu schreiben."

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