Sie leben mit Tschernobyl

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Der April 1986 war geprägt vom Unwissen über die Reaktorkatastrophe. Den April 2005 beherrscht die Unsicherheit.

Anjas Puppen hängen an der Wand hinter ihrem Bett; sie sind noch originalverpackt, Anja kann sie nur anschauen, gespielt hat sie noch nie damit. Anja hat einen großen Wasserkopf, ihr Körper ist zusammengekrümmt und klein. "Mama, beruhige dich", sagt sie zu ihrer Mutter. Tatjana Michikova kann die Tränen nicht zurückhalten, während sie den Leidensweg ihrer bald 20-jährigen Tochter erzählt: Bis zum vierten Lebensjahr war Anja ein gesundes Kind, "ist gelaufen, hat getanzt" - bis ein Gehirntumor ihren Körper ans Bett fesselte. Anjas lebensfrohen Geist konnte die Krankheit nicht bändigen: "Hier passiert nichts ohne sie", sagt die Mutter, "Anja macht uns hier die Stimmung!" In den Händen hält Frau Michikova ihren ersten Enkelsohn: "Dass nur bei ihm nichts fehlt", sagt sie.

Am 26. April 1986 war Anja sieben Monate alt. Die Familie Michikova wohnte damals so wie heute in Gomel, im Süden Weißrusslands, und war am Tag nach dem Reaktorunfall im Stadion der Stadt, als sich die radioaktive Wolke aus dem keine hundert Kilometer entfernten Tschernobyl näherte. "Der Himmel wurde ganz schwarz", erinnert sich Tatjana Michikova, "und plötzlich brach ein Sandsturm los." Die Eltern packten ihre Kinder und eilten nach Hause. Wie gefährlich die schwarze Wolke war, wussten die Menschen in Gomel nicht, arglos marschierten sie bei der Mai-Parade. Erst Wochen später erfuhren sie aus dem polnischen Fernsehen, dass "etwas Schlimmes" passiert ist, aber erst als die Schulkinder im Sommer nach Sibirien auf Erholung geschickt wurden, "verstanden wir", sagt Frau Michikova, "dass es bei uns gefährlich ist".

Folgen der schwarzen Wolke

So gefährlich, dass Anja drei Jahre später lebensgefährlich erkrankte und schwerst behindert überlebte? Beweisen lässt sich ein solcher Zusammenhang zwischen dem Super-gau in Tschernobyl und Anjas Erkrankung und den Leiden von vielen Tausend anderen in der verstrahlten Region nur sehr schwer. Bald 20 Jahre nach dem Reaktorunglück streiten die Experten nach wie vor über dessen Folgen: Die 31 Kraftwerksmitarbeiter und Feuerwehrleute, die nach dem Einsatz am brennenden Reaktor starben, sind die einzigen allgemein anerkannten Todesopfer der Katastrophe. Nach Angaben der "Liquidatorenkomitees" sollen aber inzwischen schon 100.000 Aufräumarbeiter an den Strahlenfolgen gestorben sein.

Konsens herrscht jedoch darüber, dass mindestens 1800 Kinder und Jugendliche in Weißrussland aufgrund der Reaktorkatastrophe an Schilddrüsenkrebs erkrankt sind. Die Weltgesundheitsbehörde prognostiziert, dass von allen Kindern aus dem Gebiet um Gomel, die zum Zeitpunkt des Unfalls zwischen null und vier Jahre alt waren, ein Drittel im Laufe ihres Lebens an Schilddrüsenkrebs erkranken wird. Das sind allein in dieser Gruppe 50.000 Kinder.

Fläche der Schweiz verstrahlt

Kein Zweifel herrscht unter nationalen und internationalen Experten auch darüber, dass der Gesundheitszustand der Menschen in den verstrahlten Gebieten extrem schlecht ist: "In der Folge der Tschernobyl-Katastrophe ist in der Bevölkerung auch bei vielen nicht bösartigen Erkrankungen ein massiver Anstieg zu verzeichnen", schrieb der Münchner Strahlenmediziner und Tschernobyl-Experte Edmund Lengfelder 15 Jahre nach dem Unfall. Aktuelle Statistiken des TschernobylKomitees in Minsk zeigen, sagt dessen Leiterin Svetlana Moschtschinskaja, dass die Erkrankungsrate in den verseuchten Gebieten viel höher als in den unverstrahlten Regionen ist.

In den ersten Jahren nach dem Unglück habe es zuwenig Information für die Bevölkerung gegeben, gibt Moschtschinskaja zu, doch mittlerweile sei der Zugang zu allen Daten "völlig offen": 43.000 Quadratkilometer oder gut 20 Prozent der Fläche Weißrusslands (das entspricht der Fläche der Schweiz) sind radioaktiv verstrahlt; eineinhalb Millionen Menschen, jeder fünfte Weißrusse in 2670 Dörfern und 27 Städten ist betroffen. Sowohl für Weißrussland als auch für die Ukraine und Russland gilt: Die Zonen sind keine geschlossenen Gebiete, die Verstrahlung des Bodens kann von einem zum anderen Dorf stark unterschiedlich sein, denn Wind und Regenschauer haben die Radioaktivität in den ersten zehn Tagen nach dem Unfall ganz unterschiedlich verbreitet.

Kleine Völkerwanderung

Insgesamt 350.400 Menschen wurden in Weißrussland, Ukraine und Russland nach der Reaktorkatastrophe umgesiedelt. Die Bauernfamilie Dikunowy war Teil dieser kleinen Völkerwanderung - die zu enormen sozialen Spannungen geführt hat. Im Sommer 1987, erst ein gutes Jahr nach der Tschernobyl-Tragödie, erfuhren Dikunowys, dass ihr Land "schmutzig" ist. Zuerst wurden die Frau und die Kinder ausgesiedelt, der Vater musste noch mithelfen, dass Vieh aus der verstrahlten Region zu evakuieren. In Krvsk, einem kleinen Dorf nördlich von Gomel, 55 Kilometer von ihrer angestammten Heimat entfernt, im ehemaligen Haus des Postamtleiters, haben Dikunowys neu angefangen. Der Vater arbeitet in der nahe gelegenen Kolchose, überleben kann die 13-köpfige Familie aber nur mit ihren Schweinen, Hühnern und Kühen und dem Ertrag ihrer zwei Hektar Grund: Roggen, Weizen, Rote Rüben, Gurken, Kartoffeln ...

"Ob das Gemüse verstrahlt ist, kann man in Gomel messen lassen", sagt Elena Dikunowa, doch ohne Auto sind die 40 Kilometer in die Stadt viel zu weit. Mehr Sorgen als die Qualität der Lebensmittel bereitet ihr aber die Gesundheit des Jüngsten: "Seit Geburt ist Slava geistig behindert, aber die Krämpfe werden mehr." Auf dem Boden, vor ihren Füßen spielt ihre erste Enkeltochter. "Dass nur bei ihr nichts fehlt", sagt Frau Dikunowa.

Lukaschenkos eiserne Faust - über Europas letzte Diktatur in Weißrussland

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