"Siegende Geschlagene"

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In den bürgerlichen und sozialen Revolutionen des 19. Jahrhunderts spiegeln sich gegenwärtige Fragen und Herausforderungen wider. 1848/49 ist in diesem Sinn also kein gänzlich abgeschlossenes Kapitel der österreichischen und europäischen Geschichte.

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In den bürgerlichen und sozialen Revolutionen des 19. Jahrhunderts spiegeln sich gegenwärtige Fragen und Herausforderungen wider. 1848/49 ist in diesem Sinn also kein gänzlich abgeschlossenes Kapitel der österreichischen und europäischen Geschichte.

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Im Jahr 1998 fand im beschaulichen mährischen Städtchen Kremsier/Kroměříž eine Tagung zum 150-jährigen Gedenken der Revolution von 1848 statt, in Erinnerung des aus Wien hierher verlegten ersten österreichischen Parlaments. Maßgebend für diese Ortswahl waren die Trennung des konstituierenden Reichstags vom revolutionären Wien und die Nähe zu Olmütz/Olomouc, wo am 2. Dezember 1848 die Thronbesteigung des 18-jährigen Franz Josef erfolgte.

Die letzte Sitzung der internationalen Konferenz im fürsterzbischöflichen Sommerresidenzschloss brachte eine Überraschung: Noch wurden die Schlussworte gesprochen, da rückte ein Bataillon Soldaten in den spätbarocken Saal ein. Ein Offizier der Truppe verkündete, authentisch in tschechisch gefärbtem Deutsch, die Auflösung des Reichstags und befahl die Räumung. Die zögernden Tagungsteilnehmer wurden von den Soldaten (unsere tschechischen Nachbarn lieben mit Blick auf Austerlitz und Königgrätz solche Reenactments) in den Hof eskortiert und, Gewehr im Anschlag, auf einer Holztribüne aufgestellt -für das Gruppenfoto.

Der absolutistische Staatsstreich

Diese unvergessliche Aktion dokumentierte die militärische Konterrevolution der Staatsmacht. Die Bezwinger Wiens, Feldmarschall Fürst Windischgrätz und der kroatische Banus Jelačić, standen in Olmütz neben dem Thron, und das erste Handschreiben Franz Josefs galt Feldmarschall Radetzky in Italien. Die Schließung des Reichstags geschah am 7. März 1849, gleichzeitig wurde die Oktroyierte Verfassung, auf den 4. März vordatiert, erlassen. Die Wahl des Datums für den absolutistischen Staatsstreich ging vom 15. März aus, an dem der Reichstag die Proklamation seiner Verfassung geplant hatte, in Erinnerung an das Konstitutionsversprechen Kaiser Ferdinands in der Wiener Märzrevolution. Auch glaubte Windischgrätz, Ungarn schon bezwungen zu haben -ein Irrtum, der ihn seine Führungsrolle kostete. So fehlt sein Name auf der Ehrenbürgertafel des Wiener Rathauses, die Radetzky und Jelačić verewigt -und Haynau, den Henker der ungarischen Freiheit.

Das gedemütigte Wiener Bürgertum hatte sich aus Angst vor dem Proletariat der Gegenrevolution in die Arme geworfen. Grillparzers Huldigungsgedicht für Radetzky setzte sich im Text der Ehrenbürgerurkunde fort; ein Prachtbecher der österreichischen Armee (heute im Heeresgeschichtlichen Museum in Wien) war der Lohn. Fürst Felix Schwarzenberg, Windischgrätz' Schwager, der seit 27. November 1848 als Ministerpräsident fungierte und Großmachtpläne eines Reichs der 70 Millionen schmiedete, hatte nie ernstlich die Absicht, ein parlamentarisches System einzuführen; das Silvesterpatent 1851 begründete den Neoabsolutismus. Mit der Wahl von fähigen Ministern aus dem nobilitierten Bürgertum wurden unter einem autoritären Regime die Weichen für eine moderne Verwaltung und Wirtschaftspolitik gestellt -die Ära des Semmeringbahnbaus, die Gründerzeit der Ringstraßenära kündigte sich an.

Die Protagonisten einer liberalen und demokratischen Wende wurden zu politisch verfolgten Hochverrätern. Die standund kriegsgerichtliche Liquidierung der Gegner (der Abgeordnete der Frankfurter Paulskirche Robert Blum wurde zur Symbolgestalt) setzte sich als Militär-und Zivilgouvernement und rigides Polizei-und Gendarmeriesystem fort. Die Abgeordneten der Linken wurden vertrieben: Ernst Violand und sein Freund Hans Kudlich, der "Bauernbefreier", Anton Füster, Feldkaplan der akademischen Legion, oder Josef Goldmark, der den Rechtsbruch dieser Verfahren nach 20 Jahren enthüllte. Vertriebene Intelligenz -die Todesurteile wurden den genannten "Forty-Eighters" in die USA nachgeschickt.

Selbst Dr. Adolf Fischhof, der erste Redner der Märzrevolution, in der Arbeit des Reichstags einer der wichtigsten Wortführer der Linken, wurde vom politischen Leben ausgeschlossen, er, der von der ersten Stunde der Revolution an die Erhaltungswürdigkeit des einzigartigen Verbandes der Völker glaubte: "Eine übelberathene Staatskunst hat die Völker Österreichs bisher auseinandergehalten; sie müssen sich jetzt brüderlich zusammenfinden und ihre Kräfte durch Vereinigung erhöhen. 13. März 1848." Dieser gültige Satz ist auf Fischhofs Grabdenkmal in der Israelitischen Abteilung des Wiener Zentralfriedhofs zu lesen.

Im Frühling 1849 wurde in Wien jede Erinnerung an die Märzrevolution gewaltsam unterbunden, das Grab der Märzgefallenen unkenntlich gemacht. Noch kämpften Italien und Ungarn. Nach Radetzkys Blitzsieg bei Novara (der Schlachtort festgehalten mit der Weltumsegelungsfregatte Novara) hielt das ausgehungerte Venedig noch bis August 1849 stand. Die Belagerungsarmee hatte den ersten Bombenluftangriff der Kriegsgeschichte, von Luftballons aus, gegen die revolutionäre Markusrepublik gerichtet. Világos, Komorn, "der Freiheit letzte Schanz" (Heinrich Heine), die Hinrichtungsstätten von Arad und Pest besiegelten das tragische Ende für Ungarn, wo im Endkampf Lajos Kossuth in Debrecen das Haus Habsburg-Lothringen für abgesetzt erklärt hatte.

Trotz alledem: Die Niederlagen von 1859 und 1866, Solferino und Königgrätz, zwangen Österreich auf die Bahn des Konstitutionalismus. Das Pensum von 1848 war aufs Neue aufgegeben. Das allgemeine gleiche (Männer-)Wahlrecht spannte in diesem unaufhaltsamen demokratischen Modernisierungs-und Emanzipationsprozess den Bogen vom Revolutionsjahr zur Wiedereinführung 1907. Das geltende Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger unserer Bundesverfassung geht auf den Kremsierer Entwurf zurück. Als im Jahr 1867 der österreichisch-ungarische Dualismus konstruiert wurde, drängte die Zeit. So schrieb der Abgeordnete Eduard Sturm aus Brünn zum Beratungsprotokoll des Grundrechtskatalogs das lapidare Wort "Alles 1849!"

So kam es in der Tat. Auch die Verfassungsgeber der Ersten Republik wollten sich nicht auf heikle Grundsatzfragen einlassen und rezipierten kurzerhand die Staatsbürgerrechte von 1867. Der Artikel 19 (allerdings durch den Vertrag von Saint-Germain derogiert, d. h. außer Kraft gesetzt), bleibt eine denkwürdige Erinnerung an das große Versöhnungswerk von Kremsier: "Alle Volksstämme des Staates sind gleichberechtigt, und jeder Volksstamm hat ein unverletzliches Recht auf Wahrung und Pflege seiner Nationalität und Sprache. Die Gleichberechtigung aller landesüblichen Sprachen in Schule, Amt und öffentlichem Leben wird vom Staate anerkannt."

Mit diesem Konzept nationaler Autonomie schufen die Parlamentarier von Wien und Kremsier ein Modell, das sich über die historischen Kronländer hinaus auf eine Gliederung in Kreise hätte stützen können - die Königsidee des tschechischen Historikers und Politikers František Palacký. Weiters wurde das Prinzip der Personalautonomie in Kurien diskutiert, wie es dann in den Konzepten Karl Renners und mit den Ausgleichsversuchen in der Bukowina und Mähren am Abend der Habsburgermonarchie auftaucht.

Gleichberechtigung der Nationalitäten

In unserer Zeit, die von sozialer Mobilität und massenhaften Migrationsbewegungen, von der Begegnung und Konfrontation von Kulturen, Sprachen, Konfessionen, ethnischen Gruppen und Nationen herausgefordert wird, in unseren Tagen, da blutige Konflikte den Frieden gefährden, lohnt es sich wohl, über den Sinn und die Aktualität des im österreichischen Vielvölkerreich geprägten Prinzips der Gleichberechtigung der Nationalitäten nachzudenken.

Demokratie beginnt in Österreich nicht erst 1918. In der Sprache der bürgerlichen und sozialen Revolutionen des 19. Jahrhunderts ist hier, so scheint es, von sehr gegenwärtigen Fragen und Aufgaben die Rede. 1848 -mit allen tragisch unterdrückten Hoffungen -ist in diesem Sinn keineswegs ein abgeschlossenes Kapitel der Geschichte Österreichs und Europas. Das Verhältnis der Menschen-und Bürgerrechte zur Politik, von Rechtsstaat und Demokratie, ist gerade anhand der Geschichte der österreichischen Verfassung und ihres Ursprungs exemplarisch zu studieren.

Die Frage nach "Glücken" oder "Scheitern" von Revolutionen ist mit der Erinnerung an 1848, mit diesem radikalen Schritt des historischen Reichs in die Moderne, verbunden. Die Achtundvierziger, viele von ihnen getötet, geächtet und vertrieben, sind selbst in ihrer Vergessenheit wahrhaft die "siegenden Geschlagenen", wie sie der Revolutionsdichter Ferdinand Freiligrath nannte.

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