Sind die wilden Reiter endlich angekommen?

19451960198020002020

Paul Lendvai erzählt, wie die Ungarn in tausend Jahren lernten, als Sieger aus ihren Niederlagen hervorzugehen.

19451960198020002020

Paul Lendvai erzählt, wie die Ungarn in tausend Jahren lernten, als Sieger aus ihren Niederlagen hervorzugehen.

Werbung
Werbung
Werbung

Von all den wilden Völkern aus dem Osten, die auf kleinen, struppigen Pferden fröhlich sengend und plündernd das christliche Abendland heimsuchten, waren die Magyaren die einzigen, die nicht wieder in der Versenkung verschwanden. Paul Lendvai merkt dies in einem Buch an, das einen Überblick über das wechselhafte Schicksal unserer ungarischen Nachbarn bieten will.

Woher sie kamen, als sie vor gut tausend Jahren in Europa einfielen, ist nicht restlos geklärt. Völlig überraschend wurden in kurzer Zeit aus den "blutsaufenden, menschenfressenden Ungeheuern" heldenhafte Freiheitskämpfer gegen Mongolen, Türken und Russen. Ihre Streifzüge hatten sie kreuz und quer durch Europa bis ins westliche Frankenreich, nach Asturien und ins südliche Italien geführt. Noch heute sind sie stolz darauf, daß die halbe Christenheit betete: "Vor den Pfeilen der Ungarn errette uns, o Herr!" In einer Mischung aus Anekdoten und Geschichtsschreibung erzählt Lendvai, wie sie seßhaft wurden, von ihrer Christianisierung und ihrer Stellung als Bollwerk gegen das osmanische Reich - und ihrer Einsamkeit in Europa, das sie immer wieder im Stich gelassen hat.

Nach dem verheerenden Mongoleneinfall von 1241, der ganze Landstriche entvölkerte, schrieb König Bela IV. an Papst Vinzenz IV.: "Von allen Seiten erhielten wir nur Worte. Wir haben in unserer großen Not von keinem christlichen Herrscher oder Volk Europas irgendeine Unterstützung erhalten." Ähnlich ging es ihnen gegen die Türken, was letztlich zur Niederlage von Mohacs 1526 und Dreiteilung sowie teilweisen Besetzung führte. Ganz Europa war bewegt, als die Ungarn 1848 gegen Habsburg revoltierten und im anschließenden Befreiungskrieg glanzvolle Siege errangen, ja die Hauptstadt wieder erobern konnten, doch Rußland unterstützte die reaktionären Habsburger. Auch 1956 bei der brutalen Unterwerfung des Volksaufstandes gegen die Diktatur von "Stalins bestem Schüler" Matyas Rakosi war in Gedanken der ganze "freie Westen" auf der Seite der Tapferen. In der schnöden Realität war es wichtiger, ein Stillhalten der UdSSR in der Suezkrise zu erfeilschen. Diese Einsamkeitserfahrung, verstärkt durch eine einzigartige Sprache, war es wohl, die den aus Ungarn stammenden Schriftsteller Arthur Koestler sagen ließ: "Ungar zu sein ist eine kollektive Neurose."

Lendvai sieht die Ungarn aber keineswegs nur als Opfer. Er geht auch ausführlich auf die Unterdrückung der Nationalitäten in den Ländern der Stephanskrone in der Schlußphase der Monarchie und auf die unrealistische Hoffnung auf ein Großungarn als Bollwerk gegen den Kommunismus im Donauraum ein, welche die Ungarn als letzte Verbündete Hitlers ausharren ließ. Wie sagte Tibor Dery anläßlich des Volksaufstandes so treffend: "Was ist das Ungarische? Ein Witz, der über Katastrophen tanzt."

Nach 1956 wurde unser Nachbarland unter Janos Kadar zur "lustigsten Baracke im sozialistischen Lager", und 1989 geschah wieder das Unerwartete: Friedlich und freiwillig gab eine kommunistische Staatspartei die Macht aus den Händen. Abseits von Politik und Geschichte setzt uns Lendvai auch davon in Kenntnis, daß es ohne Ungarn keine Kugelschreiber, Sicherheitszünder, Wasserstoffbomben oder Computer gäbe, ja selbst Hollywood sei "ungarisches Hoheitsgebiet". Wie übrigens jeder Ungar bestätigen kann: in dieser Welt würde ohne Magyaren nichts funktionieren. Endlich hat das nun auch Europa eingesehen, das in den Beitrittsverhandlungen zur EU Ungarn sehr positiv beurteilt. So kommen die wilden Reiter jetzt also doch in Europa an.

Die Ungarn. Ein Jahrtausend Sieger in Niederlagen. Von Paul Lendvai.

Bertelsmann Verlag, München 1999. 635 Seiten, geb., öS 364,- / E 26,45

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung