Singen, was man nicht aussprechen kann?

Werbung
Werbung
Werbung

Am Tiroler Landestheater ist ein neues Stück des Dramatikers und Filmemachers Händl Klaus zu sehen: „Furcht und Zittern“, ein Singspiel, befasst sich mit dem Thema Kindesmissbrauch. Für Aufmerksamkeit über Innsbruck hinaus sorgten auch die Uraufführung von „Lulu – Das Musical“ sowie eine Oper von Michael Nyman.

In Innsbruck stemmt das Tiroler Landestheater gegen Saisonende noch ein Neuheitenpaket. Die Uraufführung von „Lulu – Das Musical“ hat dem Haus einmal mehr überregionale Aufmerksamkeit geschenkt, denn die imponierende Inszenierung (Pierre Wyss, Bühne Helfried Lauckner) wird von einer Musik getragen, die spritzige Songs und emotionsgeladene Balladen bereit hält und qualitativ über heutige Musicals hinausreicht. Michael Mader steht am Pult, das Ensemble wird angeführt von der hinreißenden Lucy Scherer in der Titelrolle der für ihr Leben zu jungen Frau. Der umschwärmte Musicalstar Máté Kamarás führt als Jack the Ripper durch das Stück.

Fassbaenders erstes Libretto

Die Geschichte goss Brigitte Fassbaender – diese einst so faszinierende Gräfin Geschwitz der Opernbühne – in Form und schrieb damit ihr erstes Libretto. Dem durchgereimten Text entspricht die durchkomponierte Musik, beides ungewöhnlich für das Genre.

Das Tiroler Symphonieorchester Innsbruck teilt sich die Musical-Produktion mit Michael Nymans Oper „Noises, Sounds and Sweet Airs“, die als Österreichische Erstaufführung in den Kammerspielen unter Hansjörg Sofkas Leitung läuft. Spektakulär die Aufführung: Die junge Regisseurin Barbara Klimo kommt der szenischen Collage, die die Personage aus Shakespeares „Sturm“ auf drei Personen konzentriert, individuell, klug und fesselnd mit Musik, Tanz, Schauspiel und einer Gesten- und Bewegungssprache bei, die sich Tänzer und Sänger gleichermaßen aneigneten.

Die zweite österreichische Erstaufführung brachte den Tiroler Dramatiker und Filmemacher Händl Klaus nach Hause. Sein Stück „Furcht und Zittern“ umkreist in vielen Perspektiven das Thema Kindesmissbrauch, ohne Position zu beziehen. Es wird nicht einmal klar, ob sich der Musiklehrer Horni tatsächlich schuldig gemacht hat, aber seine Frau Anneliese spricht von seiner „Kinderkrankheit“ und „horny“ (engl.) heißt „geil“.

Herr Horni darf Kindern nicht mehr nahe kommen, lässt sich aber nicht vertreiben, als ihn mitten in der Nacht Polizei aus dem Haus treibt, weil daneben ein Kinderheim gebaut wird. Horni bleibt, splitternackt, auf der Straße. Als eine Kinderschar vorbei kommt, wechseln die Perspektiven und Fragestellungen wie im Kaleidoskop. Herr Horni, der seinen Beruf wechseln musste, greift wieder zur Gitarre, um seine Blöße zu bedecken – die Blößen, die er sich einst gab. Oder war er nur nett? Nur professionell, wenn er tastete, wie tief der Atem beim Singen sitzt?

„Furcht und Zittern“: Händl Klaus zitiert Kierkegaard. Er bricht mit der Sprache Sinn auf, setzt Spots, gleitet ins Absurde, bleibt insgesamt aber unbestimmt. Das Publikum unterhält sich prächtig in diesem Zwielicht, da sind ein Polizisten-Liebespärchen, die Geilheit des Kleinbürgers, die böse Erzieherin, vielleicht gar schlimmer als Herr Horni? Da sind die lieben, auch provozierenden Kinder, die ihre Sache so super machen, und die poppig eingängigen Songs von Lars Wittershagen. Denn „Furcht und Zittern“ ist ein Singspiel.

Intensiv und hochsensibel

Dass man singen muss, was man nicht aussprechen kann, könnte hier eine Ausrede sein. Wenn es Kinder betrifft. Die Angelegenheit bleibt heikel. Die Aufführung ist hervorragend, pointiert und hält doch Distanz. Regisseurin Elisabeth Gabriels Inszenierung scheut weder vor Slapstick noch vor stillen Momenten und auch nicht vor der Schwebe aus Schuld und Unschuld zurück. Hansjörg Maringer und „Band“ sorgen für die Musik. Frank Roeder als Horni gelingt das Unmögliche, diesen Horni intensiv und hochsensibel zu spielen, aber gänzlich frei von semantischem Kommentar.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung