Sklavenmarkt im Schlaraffenland

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Sie stammten aus bettelarmen Tiroler und Vorarlberger Bauernfamilien: die "Schwabenkinder", die alljährlich als Knechte für schwäbische Bauern schufteten.

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Sie stammten aus bettelarmen Tiroler und Vorarlberger Bauernfamilien: die "Schwabenkinder", die alljährlich als Knechte für schwäbische Bauern schufteten.

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Ein Sklavenmarkt mitten in Europa! Mit Entsetzen berichteten amerikanische Zeitungen im Jahre 1908 aus Oberschwaben, dem deutschen Landstrich nördlich von Vorarlberg und dem Bodensee. "Die Kinder kommen in der Regel in Begleitung ihrer Eltern am Kindermarkttag an. Hier werden sie in Reihen auf dem Marktplatz zur Besichtigung aufgestellt, und die Bauern betrachten sie, befühlen die Muskeln ihrer Arme und Beine und besprechen in lauter Weise die Vorzüge und die Mängel der Kleinen. Diese Inspektion dauert den ganzen Tag. Nach und nach werden alle untergebracht, und die Eltern der Kinder schließen dann mit den Bauern schriftliche Kontrakte ab. ,Gute Behandlung' wird auch garantiert, aber einer hiesigen Zeitung zufolge wird diese Bedingung häufiger mißachtet als befolgt, und viele Kinder kehren infolge der Mißhandlungen, denen sie ausgesetzt sind, teilweise verkrüppelt oder mit geschwächter Gesundheit in die Heimat zurück", beschrieb eine Zeitung aus Cincinnati den Kindergesindemarkt von Friedrichshafen, am Ufer des Bodensees.

Die Kinder, mit denen gehandelt wurde, stammten zum größten Teil aus Österreich; "Schwabenkinder" oder "Schwabengänger" wurden sie genannt. Es waren Kinder armer Bergbauernfamilien aus Tirol, Vorarlberg und Graubünden, die sich von März bis Oktober bei Bauern in Oberschwaben und im Allgäu als Mägde und Knechte verdingen mußten. Sie trugen ihre Arbeitskraft im wahrsten Sinne des Wortes zu Markte: Auf Kindergesindemärkten in Tettnang, Waldsee, Wangen Kempten oder Friedrichshafen. Der größte Markt fand alljährlich in Ravensburg statt: der "Hütekindermarkt". Eine Ausstellung, die sich dem bitteren Los der Schwabenkinder widmet, ist noch bis 16. April in der Vorarlberger Landesbibliothek in Bregenz zu sehen.

Es waren Armut und Hunger, die die Schwabengänger von zu Hause forttrieben. Denn die Erträge aus Ackerbau und Viehzucht in den Bergregionen Tirols und Vorarlbergs waren mehr als karg. Überdies waren durch die Realteilung, die Aufteilung eines Erbes auf alle Nachkommen, viele unrentable landwirtschaftliche Betriebe entstanden: viel zu klein und mit zersplitterten Parzellen. Vielen Bauern war es schlicht und einfach unmöglich, ihre zumeist zahlreichen Kinder zu ernähren. "Hätte man nicht jedes Jahr ein Kind gehabt, wäre es eine Sünde gewesen", erinnern sich Tiroler Bäuerinnen im Ausstellungskatalog an die damalige, leider auch kirchlich propagierte Sexualmoral. Das wenige Geld, daß Schwabenkinder mit nach Haus brachten, trug oft wesentlich zum Überleben ihrer Familien bei. Daß im Sommer ein paar Münder weniger zu stopfen waren, bewahrte die Daheimgebliebenen vor Hungersnöten.

Die ersten arbeitssuchenden Kinder zogen im 17. Jahrhundert aus dem Montafon nach Oberschwaben, der früheste Nachweis von Schwabengängern aus Tirol stammt aus dem Jahre 1796. Noch bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts verdingten sich Kinder aus Vorarlberg in Oberschwaben. (Das Gesetz, wonach Kinder in der Landwirtschaft "unbegrenzt" zur Mitarbeit herangezogen werden durften, wurde in Deutschland erst 1960 abgeschafft) Den Höhepunkt erreichte die Schwabengängerei im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts: Um 1830 zogen jährlich 2.000 Kinder aus Vorarlberg und 2.500 Kinder aus Tirol ins Schwabenland.

Die Schwabenkinder waren nur eine Gruppe unter den zahlreichen alpenländischen Arbeitsmigranten, die bereits seit dem Mittelalter durch ganz Europa zogen. Seit dem 16. Jahrhundert hatten Saisonwanderung, Gastarbeit oder endgültige Auswanderung stark zugenommen. Nach dem Dreißigjährigen Krieg etwa zogen alljährlich 7.500 der 40.000 Einwohner Vorarlbergs auf der Suche nach Arbeit in die Fremde. Eine Quelle aus dem Jahr 1839 spricht von über 27.000 Tirolern pro Jahr, die als Saisonarbeiter ihre Heimat verließen. Sie verdingten sich als Bau- und Holzarbeiter, als Hirten, oder als Tagelöhner. Manche Täler spezialisierten sich auf bestimmte Fertigkeiten: So handelten die Vintschgauer mit Südfrüchten und Rosenkränzen, die Zillertaler mit Tinkturen, die Imster waren Vogelhändler - auch Carl Zellers Operetten-Vogelhändler Adam stammt natürlich aus Tirol.

Die Aufklärung war an der ländlichen Bevölkerung spurlos vorübergegangen: Kinder wurden als kleine Erwachsene angesehen und behandelt, und daher war es selbstverständlich, daß auch sie zum Arbeiten in die Fremde zogen. Und in Schwaben bestand ein Bedarf nach billigen Arbeitskräften: Um die Mitte des 18. Jahrhunderts nämlich waren dort kleine Parzellen zusammengelegt und dörfliches Gemeinschaftsland aufgeteilt worden. Die dadurch entstandenen großbäuerlichen Betriebe brauchten saisonale und billige Arbeitskräfte. 1836 wurde in Württemberg die Schulpflicht für Kinder von sechs bis 14 Jahren eingeführt. Da die oberschwäbischen Bauernkinder nun nicht mehr für eine ganztägige Mitarbeit auf den Höfen ihrer Eltern zur Verfügung standen, waren die billigen Kinder aus dem Ausland umso begehrter - denn für sie galt keine Schulpflicht.

Für die Schwabenkinder bedeutete dies, daß sie während des ganzen Sommers keine Schule besuchen konnten. In Österreich bestand zwar bereits seit 1774 Schulpflicht für Kinder von sechs bis zwölf Jahren, doch in den meisten kleinen Orten gab es nur Winterschulen, da die Kinder entweder außer Landes gingen oder auf dem elterlichen Hof zum Lebensunterhalt beitragen mußten. Noch 1904 besuchte mehr als die Hälfte aller Vorarlberger Schulkinder nur die sogenannten Winterschulen.

Die Schwabenkinder mußten bei ihrer Reise ins Schwabenland beschwerliche Wegstrecken von bis zu 200 Kilometern auf sich nehmen. Im Frühling hatten sie noch oft mit Schnee, kalten Stürmen und Lawinengefahr zu kämpfen. In zu Rucksäcken umfunktionierten Kartoffelsäcken transportierten sie ihre spärliche Habe und den Reiseproviant. Weil viele nicht einmal das hatten, waren sie auf Betteln angewiesen. Immerhin wurden die Schwabenkinder auf ihrem Weg zumeist von Erwachsenen begleitet, meistens einer älteren Frau aus dem Dorf, manchmal vom Pfarrer oder vom Lehrer.

Das Ziel waren die Kindergesindemärkte in Oberschwaben. Am "Hütekindermarkt" in Ravensburg, dem größten seiner Art, fanden sich an den Markttagen der zweiten Märzhälfte alljährlich bis zu 200 Kinder ein. Die erwachsenen Begleiter feilschten mit den einheimischen Bauern um den Lohn, den die Kinder für ihre Arbeit erhalten sollten. Nur ältere, erfahrene Schwabenkinder nahmen die Lohnverhandlungen in die eigene Hand. Mit einem Handschlag und einer Einladung zum gemeinsamen Essen wurde der Handel besiegelt. Dann nahmen die Bauern die Kinder mit auf ihren Hof, wo sie bis Ende Oktober schuften mußten.

"Es ist eben ein Stück Sklavenhandel", stellte die Familienzeitschrift "Gartenlaube" fest. Und weiter: "Auch die bei den Schwarzen Afrikas so oft geschilderten Szenen der Trennung von Familienmitgliedern fehlen hier nicht." Auch die erste bildliche Darstellung des Ravensburger Kindergesindemarktes aus dem Jahre 1849 trägt den Titel "Der Sklavenmarkt in Ravensburg". Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts nahmen sich auch humanitär gesinnte sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete der Sache an. 1908 schließlich führten amerikanische Zeitungsartikel wie der anfangs zitierte sogar zu außenpolitischen Spannungen zwischen dem Deutschen Reich und den USA. Doch alle Vorwürfe lösten in der Region nur empörtes Unverständnis aus. Einheimische Sachverständige priesen die Schwabengängerei als "eine für Bauern und Kinder nutzbringende Einrichtung".

Für die Schwäbischen Großbauern lag der Nutzen auf der Hand: Die Schwabenkinder wurden je nach Bedarf in den unterschiedlichsten haus- und landwirtschaftlichen Bereichen eingesetzt. Bei Aussaat und Ernte mußten alle mitarbeiten, Buben mußten darüber hinaus Füttern, Melken und Stallausmisten besorgen, Mädchen wurden zur Küchenarbeit und zum Bettenmachen eingeteilt. Besonders unbeliebt waren Arbeiten wie Gänserupfen, Disteln ausstechen, Kartoffelabkeimen und Rübenziehen, auch monotone Tätigkeiten wie Dreschen oder Kurzfutterschneiden waren gefürchtet: dabei mußten die Kinder tagelang Pferde oder Ochsen im Kreis führen.

Der Arbeitstag eines Schwabenkindes war lang und anstrengend. Während der Heu- und Getreideernten mußten die Buben oft um vier Uhr morgens aufstehen und das Ochsengespann aufs Feld führen. Bis die Ernte eingebracht war und das Abendessen auf dem Tisch stand, wurde es oft halb elf Uhr.

Als Lohn für die Schufterei erhielten die Kinder Geld und Kleidung von ihrem Bauern. Das obligatorische "doppelte Häs" oder "Montürle" bestand aus einem Werktags- und einem feineren Sonntagsanzug, ein paar Schuhe und eine Kopfbedeckung inklusive. In der Mitte des 19. Jahrhunderts lag der Geldlohn für ein Schwabenkind zwischen sechs und zwölf Gulden, das entsprach dem Drittel eines Lohnes für einen erwachsenen Knecht. Zwischen 1890 und 1914 pendelte sich der Durchschnittslohn bei 60 Mark ein, was in etwa dem Monatslohn eines schwäbischen Industriearbeiters entsprach. In schlechten Jahren allerdings, wenn die Märkte mit Kindern überschwemmt waren, konnte es vorkommen, daß vor allem die kleinen Schwabengängerinnen überhaupt kein Geld bekamen.

"Gemeinsam ist allen Schwabenkindern der Stolz auf die wenigen selbst verdienten Gulden oder Mark, mit denen sie zum Unterhalt ihrer Familien beitragen konnten", erklären die Historikerinnen Sabine Mücke und Dorothee Breucker. Noch im hohen Alter schwärmte so manches ehemalige Schwabenkind von reicher, abwechslungsreicher Kost in Oberschwaben: große Portionen Krautspätzle, reichlich Milch, Brot - verglichen mit Tirol und Vorarlberg war das Schwabenland das Schlaraffenland.

Andere jedoch mußten bittere Erfahrungen durchmachen, sie klagten über wenig oder schlechtes Essen, über Vernachlässigung und Prügel. Auch sexuelle Übergriffe waren keine Seltenheit: "Eines Nachmittags gegen Abend, als ich beim Kühehüten unter einem Baum stand, kam ein Mann und wollte mir unter die Röcke greifen. Ich ließ einen Schrei, kehrte mich, haue ihm eines ins Gesicht. Erst da erkannte ich, daß es der Bauer selbst war", erinnerte sich die Vorarlbergerin Regina Lampert, die von 1864 an zehn Sommer lang im Schwabenland als Magd arbeitete.

Franz Kohler wurde 1899 in Dalaas am Arlberg geboren und trat mit 13 Jahren seine erste Stelle in Oberschwaben an. Er wurde grob behandelt und mußte sich andauernd vorwerfen lassen, zu wenig zu arbeiten und zuviel zu essen. 1978 zog er in einem Interview Bilanz: "Keinem Hund möcht' ich so eine bittere Jugendzeit wünschen."

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