Sloterdijk und die Palmström-Klone

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Peter Sloterdijks aktuelle Menschenzüchtungs-Thesen überschatteten auch das Philosophicum Lech, das im Zeichen des Alten hätte stehen sollen.

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Peter Sloterdijks aktuelle Menschenzüchtungs-Thesen überschatteten auch das Philosophicum Lech, das im Zeichen des Alten hätte stehen sollen.

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Nie zuvor überschlugen sich die Veränderungen so turbulent wie heute. Mit geradezu religiösem Eifer werden wir auf das Neue, auf den Vorausgriff in die Zukunft eingeschworen", charakterisiert und beklagt die deutsche Sozialwissenschaftlerin Marianne Gronemeyer die heutige Zeit: "Die Attribute ,neu' und ,modern' sind das schlagendste Gütesiegel. Daß das jeweils Neuere auch das bessere sei, steht außer Frage." Anfangs wurde beim dritten Philosophicum Lech das noch nie Gesehene, noch nie Gehörte, noch nie Gekannte, noch nie Erlebte als das entscheidende und doch verhängnisvolle Paradigma der Moderne beschworen - vor allem von Konrad Paul Liessmann, dem Leiter der Denker-Tagung im schönen Vorarlberg. "Der Furor der Modernisierung kennt keine Bedenkzeiten, kein Innehalten, kein Abwägen, keine Muße", betonte der Wiener Philosoph in seiner Eröffnungsrede schwärmend und mahnend zugleich.

Daß auf einer Tagung mit dem Titel "Die Furie des Verschwindens. Das Alte im Zeitalter des Neuen" Wehgeklage über den Verlust des Alten erschallen würde, war programmiert. Doch auf welche Mauer der Ablehnung das Neue bei den allermeisten Vortragenden stieß, rief vor allem unter den Jüngeren im Publikum Erstaunen hervor. Vor allem eine Erscheinung des Neuen lag wie ein Schatten über der ganzen Veranstaltung: das Klonen. Denn die mittlerweile berühmt-berüchtigte "Elmauer Rede" des deutschen Philosophen Peter Sloterdijk war unter den Philosophen und Philosophieinteressierten in Lech naturgemäß Gesprächsthema Nummer eins. Und am Programm des Philosophicums standen ein Vortrag sowie eine Pressekonferenz von Sloterdijk.

Im Juli diese Jahres hatte Sloterdijk mit seiner Rede bei einem Symposion auf Schloß Elmau in Deutschland eine Debatte ausgelöst. Der augenscheinliche Grundgedanke jenes Vortrages: Im Menschen tobe ein "Ringen zwischen bestialisierenden und zähmenden Tendenzen". Der Humanismus habe stets danach gestrebt, der "Verwilderungstendenzen beim Menschen Herr zu werden" und zwar durch "Zähmung" und Erziehung. Doch die Ära des neuzeitlichen Humanismus, so Sloterdijks Befund, sei abgelaufen. "Was zähmt noch den Menschen, wenn der Humanismus als Schule der Menschenzähmung scheitert?", fragt er. Die mögliche Antwort lautet: "Menschenzüchtung", wobei er sich dabei auf Plato und Friedrich Nietzsche stützt. In diesem Zusammenhang führt der deutsche Philosoph auch den Begriff "Anthropotechniken" ein, worunter er unter anderem In vitro-Fertilisation, pränatale Diagnostik und Klonen versteht.

Die entscheidenden Passagen des Sloterdijk-Vortrags: "Ob aber die langfristige Entwicklung auch zu einer genetischen Reform der Gattungseigenschaften führen wird - ob eine künftige Anthropotechnologie bis zu einer expliziten Merkmalsplanung vordringt; ob die Menschheit gattungsweit eine Umstellung von Geburtenfatalismus zur optionalen Geburt und zur pränatalen Selektion wird vollziehen können - dies sind die Fragen, in denen sich, wie auch immer verschwommen und nicht geheuer, der evolutionäre Horizont vor uns zu lichten beginnt" und es werde "in Zukunft wohl darauf ankommen, das Spiel aktiv aufzugreifen und einen Codex der Anthropotechniken zu formulieren". Ob Sloterdijk als Apologet der Menschenzüchtung auftritt, oder diese Problematik lediglich thematisieren wollte, was genau er unter einem "Codex der Anthropotechniken" versteht, bleibt auch nach seiner Pressekonferenz in Lech offen. Zu schwammig und assoziativ ist die Elmauer Rede abgefaßt, zu ausweichend antwortete er auf Journalistenfragen.

Sloterdijks Vortrag hatte ein Erdbeben in der deutschsprachigen Geisteslandschaft ausgelöst. Doch die in dieser Form noch nie gehörten Äußerungen führten - zumindest anfänglich - zu einem Hickhack, das dem Ernst der Sache und dem intendierten Niveau der Auseinandersetzung nicht gerecht wurde: Die "Zeit" unterstellte Sloterdijk "Selektionsfantasien", der "Spiegel" beurteilte die Elmauer Rede als "totalitär-faschistisches Bekenntnis" und "philosophisch drapierte Aggressivität". Sloterdijk, nicht zimperlich, beschimpfte im Gegenzug jenen Journalisten der "Süddeutschen Zeitung", der die Debatte ins Rollen gebracht hatte, als "linksfaschistischen Philosophie-Paparazzo" und bezichtigte den Philosophen Jürgen Habermas, eine "Fatwa" gegen ihn, Sloterdijk, ausgerufen zu haben.

Nun muß man wissen, daß Peter Sloterdijk nicht irgendein dahergelaufener Neonazi ist, sondern ein brillanter Kopf, dem es gelungen ist, sich abseits des akademischen Betriebes als vielgelesener Philosoph zu etablieren. So jemandem sofort mit der Faschismuskeule eines überzuziehen, ist unangemessen, billig und erstickt jeden Diskurs im Keim (pränatal gewissermaßen). Statt mit handfesten Argumenten, fahren die Kritiker mit dem rhetorischen Totschlaginstrument schlechthin auf - dabei gibt es allemal gute Argumente gegen das Klonen, die wohl radikalste Form der "Anthropotechniken". Wer jedoch den Diskurs verweigert, überläßt das heikle Feld der Gentechnik kampflos den Technokraten und Geschäftemachern.

"Das Klonen ist eines der faszinierendsten philosophischen Probleme der Gegenwart", stellt Konrad Paul Liessmann fest und fordert Kritiker zu mehr Reflexion auf: Ob es sich bei der "Verherrlichung der genetischen Einzigartigkeit" jedes einzelnen Menschen nicht selbst eine "Fetischisierung der Gene" handle? Liessmann ist immer für starke Formulierungen zu haben: "Wer Angst vorm Klonen hat, hat ein gestörtes Selbstbewußtsein", polemisiert er und gibt zum Besten, daß er nichts dagegen hätte, sich klonen zu lassen. "Allerdings würde ich gewisse Korrekturen vornehmen lassen", scherzt der Philosoph.

"Wenn es um Gentechnik geht, gibt es nichts zu lachen!", donnert Marianne Gronemeyer. Die strenge Sozialwissenschaftlerin ist eine von jenen, die den philosophischen Diskurs über Gentechnik am liebsten unterbinden würden. "Da geht es um Dinge, für die wir nicht einmal Namen haben!", ereifert sie sich und bemüht Ludwig Wittgenstein: "Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen." In der Debatte ums Klonen und die Gentechnik würden hochemotional besetzte Metaphern verwendet: Tiefgefrorene Embryonen etwa würden als Menschen bezeichnet, dabei handle es sich bloß um "Gefriergut", meint die paradoxerweise selbst hochemotionale Gronemeyer. Wo kein in jahrelangen politisch korrekten Universitätsdebatten bewährtes Vokabular, da keine Notwendigkeit zum Diskurs, scheint ihr Motto zu sein - Palmström-Logik pur: ... weil, so schließt sie messerscharf, nicht sein kann, was nicht sein darf (frei nach Christian Morgenstern).

In einem Punkt ist Sloterdijk auf jeden Fall recht zu geben: "Die Furie des Verschwindens hat den humanistischen bürgerlichen Bildungskanon ausgetilgt", wie der deutsche Altphilologe Manfred Fuhrmann feststellt (womit wir nach dem Neuen nun beim Alten angelangt wären). Dabei ist Fuhrmann wohl einer der letzten herausragenden Repräsentanten des untergehenden Bildungsbürgertums: In der Antike ist er zu Hause, wie der Herr Karl im Gemeindebau. Melancholisch, aber unverbissen blickt er auf das Verschwinden beziehungsweise der Verdrängung der großen Institutionen des humanistischen Bildungskanons - des Theaters, der Oper, des Konzerts, des Gymnasiums, der Bildungsreise.

Altes verschwindet zur Zeit in bisher unbekanntem Ausmaß: Lebensformen, Kommunikationsweisen, Traditionen, Weltanschauungen ebenso wie Geräte, Werkzeuge oder Verkehrssysteme. Von der "lautlosen Atrophie", also dem stillen Schwinden des Christentums, spricht der Wiener Fundamentaltheologe Johann Reikerstorfer. Und Marianne Gronemeyer beklagt das Verschwinden der Moral, die "nicht der grassierenden Unmoral zum Opfer gefallen ist, sondern dem Innovationsfuror, zu dessen Wesen es ja gehört, nichts überdauernd Gültiges anzuerkennen".

Doch muß man dem Neuen deshalb mit radikaler Ablehnung gegenüberstehen? "Mir ist in einer Gesellschaft am wohlsten, in der die führenden Persönlichkeiten übereinstimmende Überzeugungen haben. Der Verzicht auf einen Kanon - egal, was er enthält - führt zur Auflösung einer Gesellschaft", meint Fuhrmann, der bekennende Humanist und Bildungsbürger. Und ein Kanon ensteht erst, wenn sich führende Geister mit der Gegenwart und den Herausforderungen und Gefahren der Zukunft auseinandersetzen. In diesem Sinn ist ein ethisch begründeter "Codex der Anthropotechniken" geradezu notwendig, bevor die Einflußmöglichkeiten auf die Gentechnik mangels rechtzeitigen Diskurses verschwinden. Denn die Furie des Verschwindens - die bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel zum ersten Mal auftaucht - ist gefräßig.

"Man muß sich beeilen, wenn man noch etwas sehen will. Alles verschwindet", warnte schon der Maler Paul Cezanne. Das Verschwinden steht auch im Mittelpunkt des Denkens zahlreicher zeitgenössischer Philosophen; bei Jean Baudrillard ist es die Simulation, bei Paul Virilio die Geschwindigkeit, die jeweils die Wirklichkeit zum Verschwinden bringen. Von den höchsten Gütern bis hin zu banalsten Gegenständen - nichts ist vor dem Verschwinden sicher. Als ein Journalist die Wirtin des Hotel Central in Lech fragte, ob er sein Zimmer länger als bis zum festgelegten Auszugstermin behalten dürfe, schüttelte die Dame den Kopf: Nein, denn noch am selben Tag beginne man mit der Generalsanierung und die Zimmer würden noch heute abgebrochen, wie sie sich ausdrückte. So wurde besagtes Hotel just in jenem Moment von der Furie des Verschwindens ereilt, als das dritte Philosophicum Lech sein Ende fand.

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