So ist es (nicht nur) bei uns ...

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Grandioser Karl-Kraus-Auftakt der Reichenauer Festspiele.

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Grandioser Karl-Kraus-Auftakt der Reichenauer Festspiele.

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Blitze zucken über einen grauverhangenen Himmel, der Richtung Semmering immer düsterer wird und eine wahre Regenflut zur Erde schickt. "Die letzten Tage der Menschheit" scheinen schon vor der Premiere im Semmeringer Südbahnhotel angebrochen. Peter Loidolt, Intendant der Festspiele "Kunst und Künstler in Reichenau" hat für die heurige erste Premiere das ideale Ambiente gefunden. In den Räumen des stillgelegten Nobelhotels, das einst die Fin-de-siecle-Society beherbergte, entfaltet die "tragische Satire" von Karl Kraus eine ebenso beklemmende wie grandiose Wirkung.

Das von "Presse"-Kulturchef Hans Haider für den Semmering auf drei Akte hin bearbeitete monumentale Werk geht an drei verschiedenen Orten in Szene: im Speisesaal im Parterre, im Waldhofsaal einen Stock höher und zuletzt (wenn das Wetter, was am Premierenabend nicht der Fall war, es zulässt), auf der Sonnenterrasse. Das Publikum wandert fasziniert durch das Gebäude, das eines reichen Prinzen bedürfte, der es dauerhaft aus seinem Dornröschenschlaf wachküsst, und erlebt eine unheimlich dichte Arbeit von Hans Gratzer (Inszenierung und Bühne) mit großartigen musikalischen Arrangements von Georg Schulz. Allein die aus alten Möbeln zusammengebaute Dekoration des zweiten Aktes und ihre Nutzung durch die Akteure ist atemberaubend.

Der Moralist Karl Kraus, der an der grausigen Realität des Ersten Weltkrieges verzweifelt und zugleich als akribischer Chronist die schaurigen Facetten dieses Geschehens festhält, ist in seinen Aussagen über die entsetzlichen Auswirkungen eines Krieges auf den menschlichen Charakter unheimlich aktuell. "So ist es bei uns" beginnt einer der Texte, und mit gutem Grund kehrt das Stück vor "unserer" Tür, aber es führt auch deutlich vor Augen, dass unsäglicher Nationalismus, eine Jeder-ist-sich-selbst-der-Nächste-Mentalität, ein Ignorieren aller Menetekel an der Wand, nicht Privilegien einer Region sind, sondern Kennzeichen einer Welt, die immer noch "überbewaffnet und unterernährt" ist.

Aus dem hervorragenden Ensemble, dem Marianne Mendt, Anna Franziska Srna, Bernd Birkhahn, Rainer Frieb, Thomas Kamper, Alfred Kosma, Rudolf Melichar, Gerhard Roiß, Otto Schenk, Georg Schuchter und Eduard Wildner angehören, sei Peter Matic als in jeder Silbe optimal artikulierender Erzähler hervorgehoben - ein Ereignis innerhalb des Theaterereignisses.

Mit dieser außergewöhnlichen Produktion konnte tags darauf in Reichenau die Premiere von Raimunds "Der Bauer als Millionär" nicht mithalten. Trotz einiger origineller Einfälle bleibt Nikolaus Büchels Inszenierung weitgehend im Konventionell-Unterhaltsamen stecken, einen großen Pluspunkt verdient sicher die musikalische Leitung von Paul Gulda. Mit Martin Zauner (Fortunatus), Maria Köstlinger (Lottchen), Maresa Hörbiger (Lakrimosa) und Katharina Stemberger (Jugend) sind gute Kräfte aufgeboten, aber den stärksten Eindruck hinterlassen Konstanze Breitebner als sympathische Zufriedenheit und Wolfgang Hübsch als unwiderstehliches Hohes Alter.

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