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Schnitzlers "Traumvovelle", Schieles Zeichnungen und Hilde Spiels Essay

Arthur Schnitzlers "Traumnovelle" mit acht Zeichnungen von Egon Schiele und einem Essay von Hilde Spiel: Ein neuer kleiner Schatz aus der Insel-Reihe, denn da stimmt auch das Äußere, die Ausstattung. Vom Erscheinen der Novelle im Jahr 1926 berichtet die 1911 geborene Hilde Spiel: "Ein Schauer lief damals durch die Wiener Gesellschaft. Was war dem verehrten Dichter, Zeitchronisten, Verfechter einer höheren Moral, was dem Schöpfer zarter und müder Figuren wie des ,Süßen Mädels' oder Anatols, was dem Anwalt eines schuldlos Verfolgten wie des Professor Bernhardi hier nur eingefallen? Mit welch rauher Hand legte er den Seelengrund eines gesitteten Ehepaars bloß, auf dem es nur so wimmelte vom grässlichen Gewürm der Lüste? ... Mitten in Wien, im achten oder sechzehnten Gemeindebezirk, geträumte oder gar erlebte Orgien. Nacktheit, Geilheit, Unzucht. Nicht Eros stand hier Thanatos gegenüber, sondern Satyr im Bocksgewand." Sigmund Freud reagierte sofort: "Über Ihre Traumnovelle habe ich mir einige Gedanken gemacht." Doch Arthur Schnitzler hielt Distanz zu den Theorien des Seelen-Abgründe-Entdeckers und auch zu Freud selbst. Hatte er doch dieses ungeheuerliche Stück Prosa schon 1907 ohne Freuds "Traumdeutung" konzipiert.

Der Skandal war perfekt. Hier hatte einer gewagt, der österreichischen Nachkriegsgesellschaft einen Spiegel vorzuhalten: "Hektische Sinnlichkeit, Promiskuität und Perversion waren zu Alltagserscheinungen geworden. Ohne den totalen Tabubruch unserer Gegenwart vorwegzunehmen, hatte man sich bereits weitgehend von den bisherigen Normen befreit." Ein weiterer Aspekt der Novelle gab Anlass zu Spekulationen: Hatte Schnitzler, damals 60 Jahre alt, Persönliches, Intimes aus seiner Ehe preisgegeben?

Die Hauptfigur der "Traumnovelle" ist Arzt wie Schnitzler. Die Ehefrau: bürgerlich, zart, anmutig. Und doch erzählt ihm diese eher blässliche Figur eines Nachts einen Traum, der an Grausamkeit nichts zu wünschen übrig lässt. Sie berichtet ihrem Mann, sie habe zugesehen, wie er gefoltert und gekreuzigt wurde, um ihretwillen, seiner Treue zu ihr, während sie sich von Liebhaber zu Liebhaber wälzte. Fridolin ist nach dieser Erzählung "fertig" mit ihr, obwohl er sich ganz real in böse sexuelle Handlungen verstrickt hat. Ein Wunsch beherrscht ihn: Auszubrechen aus der angesehenen Existenz des Arztes, nein, ein Doppelleben zu führen. "Zugleich der tüchtige, verlässliche, zukunftsreiche Arzt, der brave Gatte und Familienvater sein - und zugleich ein Wüstling, ein Verführer, ein Zyniker, der mit den Menschen, mit Männern und Frauen spielte, wie ihn die Lust ankam - das erschien ihm in diesem Augenblick etwas Köstliches."

In der "Traumnovelle" drängt sich Fridolin in einen Zirkel ausschweifender Menschen, möchte an ihrem geheimen orgiastischen Treiben teilhaben, wird aber unsanft auf die Straße gesetzt. Arthur Schnitzler war sich trotz aller Anerkennung bewusst, dass er, wie er sagte, wegen seiner "jüdischen Stammeszugehörigkeit" nie ganz "dazu gehören" würde, zur "guten Gesellschaft" seiner Zeit.

Was bringt die Lektüre dieses Buches heute? Es ist zuallererst aufregend, spannend fast bis zur Unerträglichkeit. Nicht, weil Schamlosigkeit herrscht - das ist der Fall - , sondern weil viel ausgespart bleibt, im Gegensatz zu heutiger Literatur, die das Thema Lust aufgreift. Zum zweiten ist die Seelen-Sezierkunst Schnitzlers nicht an seine Zeit gebunden. Die Triebhaftigkeit des Menschen hat in ihm eine Stimme gefunden, wo sich heute vielfach nur mehr stumme Gewalt den Weg bahnt. Schnitzler konnte mehr als Schwarzweiß-Zeichnungen anfertigen. In jedem von uns gähnen Abgründe, bei aller intakten Fassade. Diese zu benennen, war ihm gegeben. Fridolin muss nach einem Besuch im Haus eines soeben verstorbenen Patienten erkennen, dass dessen (verlobte) Tochter nichts lieber täte, als am Totenbett ihres Vaters in die Arme des Arztes zu sinken. Er widersteht, läuft durch die Straßen Wiens und hat eine Empfindung des Realitätsverlustes: "Alles war ihm ins Gespenstische entrückt. Und in dieser Empfindung, obzwar sie ihn ein wenig schaudern machte, war zugleich etwas Beruhigendes, das ihn von aller Verantwortung zu befreien, ja aus jeder menschlichen Beziehung zu lösen schien." Wer hat je das Doppelgesicht des "zivilisierten" Menschen klarer gesehen als dieser Doktor Schnitzler?

Traumnovelle. Von Arthur Schnitzler.

Mit Zeichnungen von Egon Schiele und

einem Essay von Hilde Spiel.

Insel Verlag, Frankfurt/M. 2002.

107 Seiten, geb., e 12,80

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