Song Contest: Ein Sängerstreit der Superlative

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Antiautoritärer Zeitgeist, Ironie auf der Bühne, politische Botschaften oder einfach nur Schrott. Eine kurze Geschichte des Song Contests.

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Antiautoritärer Zeitgeist, Ironie auf der Bühne, politische Botschaften oder einfach nur Schrott. Eine kurze Geschichte des Song Contests.

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Mit zuletzt 180 Millionen Fernsehzuschauern ist der Eurovision Song Contest das größte TV-Event Europas. Wenn das Finale der 60. Ausgabe des Gesangswettbewerbs am 23. Mai in der Wiener Stadthalle über die Bühne geht, werden 1700 Medienvertreter aus aller Welt erwartet. Sogar in Australien erfreut sich der Eurovision Song Contest (ESC) großer Beliebtheit, daher wurde das Land heuer einmalig zur Teilnahme eingeladen. Was bloß macht die Faszination dieses Wettbewerbs aus, bei dem in diesem Jahr 46 Interpreten oder Bands aus Mitgliedsstaaten der Europäischen Rundfunkunion EBU gegeneinander antreten?

Manchmal bringt der ESC sogar echte Evergreens hervor, man denke nur an "Nel blu dipinto di blu" und "Piove (Ciao ciao bambina)"(beide Ende der 1950er-Jahre von Domenico Modugno gesungen, beide keine Wettbewerbssieger), oder an "Merci Chérie", mit dem Udo Jürgens 1966 den Sieg davontrug. Auch die schwedische Popgruppe Abba startete ihre Weltkarriere mit "Waterloo", dem Siegerlied beim ESC 1974. Doch ein großer Teil der Darbietungen ist Schrott: phantasielos produzierte Popmusik ohne musikalische Relevanz und ohne qualitativen Anspruch. Dennoch fiebert ein Teil der Zuschauer ganz ernsthaft mit den von ihm erkorenen Lieblingen mit, während ein anderer Teil den ESC als Ausgeburt des Camp zu schätzen weiß, wie Susan Sontag einst die Verehrung des mit großer Ernsthaftigkeit hervorgebrachten Übertriebenen benannte. Der ESC ist aber nicht nur ein "Teilchenbeschleuniger des Trivialen"(Der Spiegel), in dem die europäische Unterhaltungsindustrie für ein paar Stunden ein Feuerwerk an Glitzer und Glamour zündet, sondern auch ein politischer und gesellschaftlicher Seismograph, der luzid bedeutende Entwicklungen der letzten Jahrzehnte abbildet.

Antiautoritärer Zeitgeist

1967 gewann die britische Sängerin Sandie Shaw mit "Puppet on a string" barfuß und im Minirock den ESC in Wien: ein Ausdruck des antiautoritären Zeitgeistes, der sich in der restriktiven Nachkriegsgesellschaft ausbreitete und sich im Jahr darauf in den Studentenunruhen von 1968 entlud. Weil ihnen die bloßen Füße der Sängerin dem edlen Parkett der Wiener Hofburg unangemessen erschienen, empfanden viele Österreicher Shaws Auftritt als skandalös. So eine Zeit war das. 1982 trug die deutsche Bardin Nicole mit dem Lied "Ein bisschen Frieden" den Sieg davon -ein Zeichen dafür, wie sehr der Überdruss am Kalten Krieg mit seiner atomaren Hochrüstung damals die Breite der Gesellschaft erfasst hatte, und auch Vorzeichen für den Aufstieg der alternativen Bewegungen, die bald darauf in Gestalt der Grünen -1983 in Deutschland, 1986 in Österreich - in die Parlamente Einzug hielten.

Mit ironischer Distanz

Als sich in den 1990er-Jahren die Ironie im popkulturellen Diskurs breitmachte, ging diese Entwicklung auch am ESC nicht vorbei. Der Deutsche Guildo Horn, die Karikatur eines Schlagersängers, brachte 1998 mit seiner Begleitband "Die Orthopädischen Strümpfe" erstmals die Metaebene in den Gesangswettbewerb ein. Spätestens mit seinem Nonsens-Song "Guildo hat euch lieb!" wurde klar, dass ein nicht unbeträchtlicher Teil der Zuseher den ESC mit ironischer Distanz verfolgt. Höhepunkt dieser Entwicklung war der Sieg der exzentrischen finnischen Heavy-Metal-Band Lordi im Jahr 2006 -in einer Zeit, in der diese Musikrichtung (außer für ihre unmittelbaren Fans) allgemein nur Ziel von Spott und Hohn war. Doch auch weniger sympathische gesellschaftliche Entwicklungen schlugen sich am ESC nieder: Als in den 1990er-Jahren immer mehr Länder des ehemaligen Ostblocks den Song Contest als Bühne nutzten, machte sich Nationalismus im Gesangswettbewerb breit. Gleichwohl beim ESC gewissermaßen Länder gegeneinander antreten, stand doch stets die Musik im Vordergrund. Nationalismen gab es, sie blieben allerdings eine Randerscheinung: Die skandinavischen Länder bedachten sich untereinander stets mit hohen Punktezahlen; Griechenland und Zypern schoben sich alljährlich gegenseitig zwölf Punkte zu; dass Deutschland so gut wie nie auch nur einen Punkt aus Österreich erhielt, gehörte zur Folklore des Gesangswettbewerbs .

Doch als auch die ehemaligen jugoslawischen Teilrepubliken und die sowjetischen Nachfolgestaaten den ESC für sich entdeckten, nahm der Nationalismus Überhand. Serbien-Montenegro, Bosnien-Herzegowina, Kroatien, Albanien und Mazedonien schanzten einander bei der Wertungszeremonie gegenseitig die höchsten Punkte zu, als hätte es die ethnischen Konflikte und Kriege am Balkan nie gegeben. Auch Russland, Weißrussland, Aserbaidschan und die Ukraine (!) hielten im Zuschauer-Voting zueinander, als wäre die Sowjetunion nie untergegangen. Weil, wie der damalige ORF-Programmdirektor Wolfgang Lorenz konstatierte, "nicht nach der Qualität der Beiträge, sondern nach ihrer Herkunft" entschieden wurde, verzichtete Österreich drei Jahre lang (2008 bis 2010) auf die Teilnahme. Nur durch Regeländerungen konnte verhindert werden, dass auch größere -und für die Finanzierung des Mega-Events unabdingbare -Nationen absprangen.

Seit den 1990er-Jahren geben die Votings aus den einzelnen Ländern auch deutlich Auskunft über Migrationsströme. Dass Teilnehmer aus der Türkei und diversen Balkanstaaten regelmäßig Stimmen aus Österreich und Deutschland bekommen, liegt schlicht und einfach an den vielen türkischstämmigen Menschen in diesen Ländern, die beim ESC für die Teilnehmer aus ihren Herkunftsländern stimmen.

Politische Botschaften

Obwohl das ESC-Reglement politische Statements untersagt, spielt die Politik immer wieder in den Wettbewerb hinein. Auch der Sieg von Conchita Wurst im Vorjahr ist nicht nur einem überzeugenden Auftritt zu verdanken, sondern auch der politischen Botschaft, die von der Kunstfigur transportiert wurde: Allgemein ging es um Toleranz und Respekt, doch viele münzten diese Botschaft auf das offizielle Russland, das gerade zu jener Zeit durch Homosexuellenfeindlichkeit unangenehm auffiel. Conchita Wurst wurde bereits im Voraus in Russland, Weißrussland und Armenien heftig attackiert. Ihr Sieg war somit auch ein Triumph über Intoleranz und Kleingeist. Nach dem Sieg tat ein Vertrauter Putins kund, dass all jene Russen, die für Conchita Wurst gestimmt hatten, über eine "abnormale Psychologie" verfügten.

Die Präsenz der Politik im Hintergrund des Gesangswettbewerbs ist weder ein Einzelfall noch ein Phänomen der Gegenwart. Im Jahr 1969 blieb Österreich dem in Madrid stattfindenden Wettbewerb aus Protest gegen die in Spanien herrschende Franco-Diktatur fern. Auch dass Algerien, Tunesien, Libyen, Ägypten, Jordanien und der Libanon, obwohl sie als Mitgliedsländer der EBU dazu berechtigt wären, noch nie am ESC teilgenommen haben, hat handfeste politische Gründe: Diese islamischen Länder weigern sich, zusammen mit Israel -das seit 1973 regelmäßig beim ESC mit dabei ist -an einem Wettbewerb teilzunehmen. Als einziges arabisches Land hat sich Marokko einmal (1980) der Konkurrenz gestellt. Die Sängerin Samira wurde allerdings nur Vorletzte.

LESEN SIE AUCH DEN BERICHT ÜBER RUMÄNIENS ESC-BEITRAG AUF SEITE 7

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