Sonntag, jenseits vom Berg Sinai

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Ich weiß: Ich sollte mich mit den großen Dingen dieser Welt befassen. Mit dem "Mauerfall" vor 25 Jahren und meinen Erinnerungen daran. Mit Obamas Demontage. Oder mit dem Streit um das heimische "Islamgesetz". Aber im Blick auf all das, was dazu schon geschrieben wurde, entscheide ich mich für ein Nebengleis.

Am Wochenende war ich auf Vortragstour in Südtirol, ökologiebewusst per Bahn. Was mir dort gleich auffällt: Die Kirche ist beim Sonntagsgottesdienst übervoll, die anschließende Suche nach einem Gasthaus aber vergeblich. Hotels, Restaurants, Pizzerias: alle sind "chiuso", gesperrt. "Heute ist doch Sonntag und noch dazu November", sagt der Apotheker, "da wollen die Leute ihre Ruhe. Heute gibt es nur den Pfarrer und mich."

Die nächste Gelegenheit zur Nahrungsaufnahme sei zu Fuß eine halbe Stunde entfernt, fügt er hinzu. Ein freundlicher Ortsbewohner fährt mich sogar dorthin - aber das Lokal ist ausgebucht.

Das Fasten trifft mich unvorbereitet. Am Montag, schon auf der Rückfahrt nach Österreich, lese ich im Zug einen Bericht über den Streit um die Sonntagsöffnung in Wien. Unter anderen Vorzeichen hätte ich ihn überblättert, jetzt interessiert mich das Thema samt seinem Für und Wider.

Kaum heimgekehrt, stoße ich - Zufall oder Fügung - auf ein zwanzig Jahre altes Tondokument über "Wurzeln unserer Ethik". Die Dokumentation eines Gesprächs prominenter Theologen und Naturwissenschafter über den Wertewandel und Werteverfall in unserer Zeit, interreligiös. Auch Kardinal König ist mit dabei.

Gott und sich selbst gehören

In einem Kernpunkt ist sich die damals versammelte Runde schnell einig: Auch unsere säkular gewordene Gesellschaft formuliert ihre Ethik mit Blick auf die "Zehn Gebote" vom Berg Sinai.

"Sie sind für die ganze Menschheit die Basis, dass diese Welt erhalten bleibt", formuliert es der (inzwischen verstorbene) jüdische Denker Ernst Ludwig Ehrlich unter allgemeiner Zustimmung. Und zählt dann, zu meiner Überraschung, ausgerechnet den Sabbat ("den Vater auch des christlichen Sonntags") zu den wichtigsten Errungenschaften menschlicher Kultur.

Der nämlich sei als geheiligter, gesegneter Tag "das große Geschenk an die Welt" - und mit ihm auch die Sonntagsruhe. An diesem "Tag des Herrn" gehöre der Mensch ganz Gott und sich selbst. An diesem einen Tag gewinne er auch "die Verfügungsmacht über die Zeit" und werde aus der Routine seines Alltags herausgehoben. Mehr noch: Nur an diesem Tag seien alle sozialen Unterschiede und Brüche nicht existent; es gebe dann "weder Herren noch Knechte" - nur noch den "Nächsten".

Schön gesagt, sehr gescheit und weitsichtig, denke ich mir beim Zuhören - bis mir mein Zwangsfasten vom Sonntag einfällt. Und wieder einmal wird mir im ganz Kleinen bewusst, wie wenig sich manchmal Theorie und Praxis, Wichtiges und (subjektiv) Notwendiges miteinander vertragen

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