Sorge um eine neue Spaltung Europas

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"Projekt Mitteleuropa": So nannten Erhard Busek und Emil Brix 1986 ihre viel beachtete Streitschrift. Eine Ostöffnung und mehrere EU- Erweiterungen später überprüfen nun die beiden Autoren unter dem Titel "Mitteleuropa revisited", was aus diesem Projekt geworden ist.

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"Projekt Mitteleuropa": So nannten Erhard Busek und Emil Brix 1986 ihre viel beachtete Streitschrift. Eine Ostöffnung und mehrere EU- Erweiterungen später überprüfen nun die beiden Autoren unter dem Titel "Mitteleuropa revisited", was aus diesem Projekt geworden ist.

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Zu Zeiten des Kalten Krieges, als der Eiserne Vorhang das westliche Europa vom sogenannten "Ostblock" trennte, war "Mitteleuropa" ein Hoffnungsbegriff für alle, die sich mit der Zweiteilung des Kontinents nicht abfinden wollten. Als noch niemand von einer "Ostöffnung" zu träumen wagte, kämpften Kulturschaffende und Intellektuelle in unseren Nachbarstaaten unter dem Schutz dieser politisch zunächst unverdächtigen Überschrift um Gedankenfreiheit und kulturelle Vielfalt.

Zu ihren aktivsten Unterstützern gehörte damals Erhard Busek. Als Vizebürgermeister von Wien betrieb er unter hohem persönlichem Einsatz, unterstützt von seinem Mitstreiter Emil Brix, mitteleuropäische Außenpolitik. Man lud zu Tagungen ein, bot Publikationsmöglichkeiten und hielt Kontakt zu Persönlichkeiten wie Władysław Bartoszewski, György Konrád oder Václav Havel. Das alles zu einer Zeit, als die Bundesregierung in erster Linie um gute Kontakte zu den kommunistischen Regimen bemüht war und Spitzenfunktionäre der österreichischen Gewerkschaft es noch für unangebracht hielten, mit einem Oppositionellen wie Lech Wałęsa offizielle Kontakte zu pflegen.

Busek blieb nach seinem Ausscheiden aus der Bundesregierung als Koordinator der Südosteuropa-Initiative und Erweiterungsbeauftragter europapolitisch aktiv und führt bis heute das Institut für den Donauraum und Mitteleuropa (IDM). Emil Brix leitet nach erfolgreichen Jahren als Kulturdiplomat und Botschafter in London und Moskau seit 2017 die Diplomatische Akademie. Beide wissen also, wovon sie reden, wenn sie "Mitteleuropa" neu besichtigen.

Neue geopolitische Zusammenhänge

Schon am Bedeutungswandel des Begriffs lässt sich ablesen, wie Geschichte lebt und wie sich unsere Sichtweisen mit ihr verändern. Einerseits verlor "Mitteleuropa" als identitätsstiftender Referenzpunkt vorübergehend an Bedeutung, als es nach dem Fall des Eisernen Vorhangs zunächst um die Selbstfindung der jungen, souveränen Nationen ging. Andererseits begegnet es uns heute in ganz neuen geopolitischen Zusammenhängen wieder. Die Reichweite des Begriffs umfasst mittlerweile all jene Räume, in denen Interessen der EU und der Russischen Föderation aufeinandertreffen -von der westlichen Ukraine bis zu den EU-Erweiterungskandidaten am West-Balkan.

Die Lektüre des aktuellen Gemeinschaftswerks der beiden Autoren gibt Anstoß zu einem überfälligen Perspektivenwechsel. Dem meist vorherrschenden Blick westlicher EU-Staaten auf die neuen Mitgliedsländer als grundsätzlich defizitäre Nationen, denen man großzügigerweise einen raschen Beitritt in die Wohlstandsgemeinschaft ermöglicht hat, stellen sie eine Sichtweise entgegen, die deren Eigenständigkeit mehr als bisher respektiert.

Zwar wurde das Aufnahmeversprechen gegenüber den mitteleuropäischen Nachbarn eingehalten. Der wirtschaftliche Aufholprozess gestaltet sich jedoch bei einigen von ihnen deutlich langsamer als ursprünglich erhofft. Überdies machen fast allen neu hinzugekommenen Mitgliedsstaaten massive Abwanderungsbewegungen der jüngeren Generation zu schaffen. Zu deren unmittelbaren Folgewirkungen gehören nationalpopulistische Strömungen ebenso wie das so unterschiedliche Verständnis von Solidarität in der Flüchtlingskrise.

Die Sorge der Autoren, dass sich daraus eine neue Spaltung Europas entwickeln könnte, ist greifbar. Schon deshalb bedauern sie, dass zuletzt bei der Neuverteilung der bisher in England angesiedelten EU-Institutionen die Chance vergeben wurde, unseren Nachbarländern höheres europapolitisches Gewicht zu verleihen. Zu mehr sichtbarer Gleichrangigkeit würde auch die Zulassung einer slawischen Sprache als weiterer EU-Amtssprache beitragen. Der weit darüber hinausgehende Denkanstoß, eines Tages Krakau zum Standort einer zweiten europäischen Hauptstadt zu machen, ist wohl der persönlichen Nähe von Emil Brix zu dieser Stadt zuzuschreiben, in der er unmittelbar nach der Ostöffnung als Kulturattaché Pionierarbeit geleistet hatte.

Die Entwicklungen im mitteleuropäischen Raum können als Erfolgsgeschichte gelesen werden oder als Aufforderung, noch viel mehr daraus zu machen. Was damit gemeint sein kann, erschließt sich bei der Lektüre von "Mitteleuropa revisited".

Mitteleuropa revisited Warum Europas Zukunft in Mitteleuropa entschieden wird Von Emil Brix und Erhard Busek K &S 2018,224 S., Hardcover, € 24,-

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