Soziale Prinzen und Prinzessinnen

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Das Klischee ist hartnäckig: Einzelkinder würde man sofort erkennen, sind sie doch merkbar egoistischer, selbstverliebter, rücksichtsloser, kurz mit weniger sozialen Kompetenzen ausgestattet als ein Mensch, der Mama und Papa nach erfolgreicher Bewältigung des „Entthronungstraumas“ mit mindestens einem anderen Kind teilen musste. Individuelle Begegnungen mögen das Klischee bestätigen, die Wissenschaft tut es nicht.

So kam das Deutsche Jugendinstitut in einer Langzeitstudie zwischen 2000 und 2005 über das Aufwachsen von Kindern in Deutschland zum Schluss: Einzelkinder und Kinder mit Geschwistern unterscheiden sich in puncto sozialer Kompetenz nicht signifikant. „Einzelkinder würden früher in Einrichtungen, also Kindertagesstätten, untergebracht als Kinder mit Geschwistern“, erklärt der Soziologe Christian Alt vom Deutschen Jugendinstitut und Leiter der Studie. So würden soziale Kontakte ausgeglichen.

Auch andere Studien kommen zu ähnlichen Ergebnissen: Nicht allein das Faktum, Einzelkind zu sein, ist ausschlaggebend für die Entwicklung, sondern die gesamte Familien-, Betreuungs- und Erziehungssituation. Familien mit einem Kind sowie mit mehreren Kindern müssten daher für die weitere Analyse in Untergruppen geteilt werden, sagt der Münchner Familienforscher Hartmut Kasten, etwa ob Einzelkind und alleinerziehendes Elternteil oder Einzelkind und voll berufstätige Eltern.

Immer mehr Einzelkinder?

Doch so manche lassen selbst übereinstimmende Studien skeptisch zurück: Ja, ist es denn dann egal, ob man Geschwister hat und dass es immer mehr Einzelkinder gibt? Zunächst zur letzten Befürchtung. Zahlen relativieren diesen Eindruck: Gab es in Österreich 1961 636.657 Familien mit nur einem Kind, so waren es 2007 711.200 Familien, also ein leichter Anstieg. Tatsache ist aber auch, dass Familien mit einem Kind die stärkste Gruppe nach „Familien ohne Kind“ ist. Letztere Gruppe ist wiederum stärker gestiegen. Was die Statistik auch zeigt, ist der ungebrochene Trend zum Zweitkind (siehe Grafik). Familien mit zwei Kindern würden als Norm verinnerlicht, so Experten. Zunächst müsse also schon die These „von den vielen verwöhnten Prinzen und Prinzessinnen“ als Mär abgetan werden, nicht nur bezogen auf ihre mangelnden sozialen Kompetenzen, sondern auch in Bezug auf ihre Zunahme, betont Christian Alt. Nicht Einzelkind zu sein, stelle ein gewisses Risiko für die positive Entwicklung des Kindes dar, sondern nur ein Elternteil zu haben und Eltern(teile), die überhöhte Erwartungen in das Kind setzen oder es wenig fördern.

Der deutsche Psychoanalytiker Horst Petri ist in dieser Frage kulturpessimistischer. Er spricht gar überspitzt vom drohenden Aussterben von Geschwistern in einer zunehmenden Single-Gesellschaft, wo überhaupt immer mehr auf Kinder verzichten. „Das ist für die soziale Gemeinschaft sehr problematisch, weil diese Grundeigenschaften, die Menschen aneinander binden, dabei verloren gehen. So wird jeder mehr zum Einzelkämpfer. Grundlegende Eigenschaften wie Teilen, Anteilnahme und Verantwortung, die uns durch Geschwister elementar vermittelt werden, nehmen an Bedeutung ab.“

Letztendlich spießt sich alles an der Frage, ob zu Kindern, die im Kindergarten, in der Schule, im Hort als Freunde gewonnen werden, wirklich geschwisterähnliche Beziehungen aufgebaut werden können. Petri bezweifelt das. Er weist auf diesen besonderen „Schutzraum“ hin, in denen Geschwister ihre Auseinandersetzungen austragen könnten. Der bestehe in Betreuungseinrichtungen eben nicht. „Geschwisterbeziehungen und Freundschaften sind nicht gleichwertig, da wäre ich zurückhaltend“, sagt auch der Soziologe Alt. Unter Geschwistern gehe es eben noch härter zu in Bezug auf Rivalität und es gebe eine größere Nähe, aber soziale Kompetenzen könnten beide Gruppen erlernen.

Umstritten ist auch die Frage, welche Bedeutung das sogenannte Entthronungstrauma einnimmt, das Sigmund Freud formulierte und damit die Rivalität zum Kernmoment von Geschwisterbeziehungen erkor. Das erstgeborene Kind würde demnach eine schwere Krise erleben, wenn es die Liebe der Mutter nach der Geburt des zweiten Kindes teilen muss.

Sinn oder Unsinn Entthronungstrauma

Während manche meinen, dieses „Trauma“ zu durchleben sei wichtig für die Entwicklung des Kindes, sehen andere darin den Keim für eine immerwährende Rivalität. Im Umkehrschluss könnte Einzelkindern daher ein „Trauma“ erspart geblieben sein, oder aber sie könnten wiederum etwas vermissen, wie übrigens auch Letztgeborene.

Petri betont, dass allein schon der Begriff irreführend sei, denn die Geburt eines Geschwisters, die ja auch als positiv erlebt werde, sei nicht mit einem Trauma vergleichbar. Weiters zeige sich, dass nicht allein die Geburt eines zweiten Kindes als schwerer Einschnitt erlebt werde, sondern die mögliche Distanzierung der Mutter und in dieser Situation die Abwesenheit eines Vaters. „Wenn Eltern den Schmerz des ersten Kindes verstehen und durch eine besondere Zuwendung abfedern, dann kann man das Entthronungstrauma stark relativieren.“ (bog)

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