Mauer - © Foto: Evgeniya Dimitrova

Spaziergang durch die Tabakstadt

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Einst war Bulgarien ein Global Player der Tabakindustrie, der beliebte Orienttabak wurde in die ganze Welt exportiert. Die Revitalisierung des vernachlässigten Industriegeländes von Plovdiv, der europäischen Kulturhauptstadt 2019, stellt eine Herausforderung dar.

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Einst war Bulgarien ein Global Player der Tabakindustrie, der beliebte Orienttabak wurde in die ganze Welt exportiert. Die Revitalisierung des vernachlässigten Industriegeländes von Plovdiv, der europäischen Kulturhauptstadt 2019, stellt eine Herausforderung dar.

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Die Lokomotive pfeift, die Bremsen ziehen. Ein Zug ist eingetroffen. Mit ihm die Hektik und die Aufregung. Langsam stellt sich wieder Ruhe ein, in der man die ersten Geräusche und Bilder von Plovdiv, der diesjährigen Kulturhauptstadt Europas, wahrnimmt. Zwitschernde Schwalben, verhallende Stimmen und ein Bahnhof, wie aus jener Zeit entrissen, in der noch der OrientExpress hier anhielt und vom Güterbahnhof vollbeladene Züge mit duftendem Tabak nach Westeuropa abfuhren. „Mit dem Bau des Bahnhofs und dieser Straße hat der wirtschaftliche Aufschwung begonnen“, sagt Penka Kalinkova, Film-und Buchautorin, als wir die von Platanen gesäumte Ivan-Vazov-Straße entlanggehen, die den Bahnhof mit dem Zentralplatz verbindet.

Auf mehr als 15 Hektar Fläche errichteten lokale Unternehmer in den 1920er-Jahren die so genannte „Tabakstadt“: etwa 13 Lager und Fabriken für die bulgarische Tabakindustrie, eine Industrie, die die Geschichte Bulgariens im letzten Jahrhundert erzählt. Die Gebäude wurden nicht wie Produktionsstätten, sondern wie Kulturinstitute entworfen – mit den eleganten Gipsfiguren und Ornamenten und warmen Farben der hohen Fassaden. „Der Bau dieser Lagerhäuser ist ein zivilisatorischer Akt! Und wie! Wenn Sie auch noch die Holzkonstruktion auf dem Dachboden sehen würden. Da werden Sie staunen, mit was für dicken, soliden Brettern gebaut wurde. Für mich ist es ein romantischer Ort, nicht nur, weil er Teil einer hundertjährigen Geschichte ist“, sagt Penka Kalinkova.

Plovdiv liegt in der Thrakischen Ebene. Von hier aus und weiter bis zur Ägäis erstreckt sich die Heimat des Orienttabaks – diese aromatische Ader von Tabak, ohne die keine Marke Zigaretten exzellent werden kann. Bis 1878, vor der Befreiung Bulgariens aus Osmanischer Herrschaft, war das Geschäft mit dem Orienttabak in der Hand türkischer und griechischer Kaufleute. Gegen diese mussten die bulgarischen Unternehmer des neugegründeten bulgarischen Staates konkurrieren. So etwa das Familienunternehmen Tomasjan. Zu Beginn bestand die Produktion aus ganz einfachem Schneiden des Tabaks, der sich zum Kauen und Stopfen von Pfeifen eignete. Stück für Stück wurde sie mechanisiert. Dazu brauchte es allerdings Kapital.

Aufblühen der Tabakindustrie

Das Kapital kam mit den Kriegen. Mit dem Türkisch-Griechischen Krieg wurde die Wirtschaft beider Länder stark angeschlagen. Bulgarien wurde zum Hauptlieferanten für orientalische Tabaksorten in Europa. Innerhalb von 10 Jahren wuchs der Tabakanteil am bulgarischen Export um rund 40 Prozent, überholte somit den von Rosenöl, und wurde für Bulgarien das, was das Getreide für Russland oder der Kaffee für Brasilien war. Die Nachfrage war groß: Im Zuge des Ersten Weltkriegs wurden die Großmächte, allen voran Deutschland, zu sehr guten Absatzmärkten, da die Frontsoldaten mit Zigaretten versorgt wurden. Die Soldaten, die mehrere Jahre in den Schützengräben ausharren mussten, rauchten aus Langeweile. Rauchen kam auch unter Zivilisten immer mehr in Mode. Aus den Kriegsgebieten in Thrakien und Makedonien kamen Tausende Flüchtlinge nach Bulgarien, darunter viele tabakkundige Bauern. Noch im Dunkeln klapperten sie mit ihren klobigen Holzschuhen durch die Straßen der Tabakstadt und eilten in die Fabriken. Der Tabakgeruch lag in der Luft, der Tabak plagte die Lungen und klebte an den Händen, brachte jedoch der wachsenden Arbeiterklasse Brot und ein Klassenbewusstsein. Die ersten Proteste fanden in der Tabakstadt statt, der Feminismus schlug Wurzeln, die Moderne war angebrochen. „Die Zigaretten gehörten zur Kultur der neuen Kaffeehäuser“, erklärt die Kulturanthropologin Vessela Noscharova. „Da gab es keinen Platz mehr für betrunkenes Gerede, es wurde eher sachlich über Politik diskutiert. Die Beschleunigung war spürbar. Der eilende Mensch mit der Zigarette im Mund wurde zu ihrer Ikone, ebenso die Kaufleute, die vor ihren Läden schnell eine rauchten.“

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