Sprache erschafft Identität

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Erzählen lässt die Dinge erst existieren -Gudrun Seidenauer erkundet in ihrem neuen Roman "Was wir einander nicht erzählten" das Scheitern einer Freundschaft.

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Erzählen lässt die Dinge erst existieren -Gudrun Seidenauer erkundet in ihrem neuen Roman "Was wir einander nicht erzählten" das Scheitern einer Freundschaft.

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Das Buch beginnt mit der Schilderung von Cordulas Begräbnis. Cordula litt an Schizophrenie und setzte ihrem Leben selbst ein Ende. Ihre Verrücktheitsphasen wurden immer länger, in ihren letzten Lebensjahren verbrachte sie nur wenige Wochenenden mit ihrem Ehemann und ihrer Tochter Mella. Cordulas Tod verändert aber nicht nur das Leben ihrer Familie, sondern auch die Freundschaft zwischen Mella und Marie, den beiden Protagonistinnen in Gudrun Seidenauers neuem Roman "Was wir einander nicht erzählten".

Der Selbstmord stellt die achtjährige Freundschaft von Mella und Marie in Frage, er bedroht ihre Gewissheit, "dass sie einander verstehen, mit oder ohne reden". Cordula verbrachte die meiste Zeit in einer Klinik, sie war, als sie lebte, meist nur als Bild auf der Kommode oder als Stimme vom Band präsent oder als "Figur in Geschichten mit Lücken, in denen Mellas Schweigen Marie manchmal Atemnot machte." Der Tod einen Monat vor der Matura bringt Cordula in Mellas Leben zurück und steht fortan zwischen Mella und Marie, aber auch zwischen Marie und Mellas Vater Alexander, der Musiker ist, und in den Marie ein wenig verliebt ist. Mella verspricht ihrer Freundin: "Später erzähle ich dir alles." Aber das wird nicht passieren.

Ein Freigeist in der Kleinstadt

An ihrer statt wird Gudrun Seidenauer in ihrem Roman versuchen, die unzertrennlich scheinende Freundschaft zwischen zwei jungen Mädchen und ihren Bruch zu rekonstruieren, ohne zu psychologisieren. Die Autorin nähert sich sehr behutsam der Beziehung der beiden Mädchen, lässt vieles offen. Amelia, Mella genannt, übersiedelt mit ihren Eltern in die ruhige Kleinstadt und fasziniert von der ersten Begegnung in der zweiten Klasse Gymnasium an Marie, weil sie ganz anders ist, selbstbewusst, kreativ, kämpferisch, unabhängig und unangepasst. Sie lebt mit ihrem Musikervater in einem Haus, hat alle Freiheiten, die Marie vermisst, darf sich anziehen, wie sie will, hat mit ihren jungen Eltern Afrika, Asien und Italien bereist. Die Familie wäre auch ohne Cordulas psychische Krankheit in der Kleinstadt aus dem Rahmen gefallen und bietet für deren Bewohner viel Gesprächsstoff. Marie lebt in einer kleinbürgerlichen Familie, die Rollen sind verteilt, der Sommerurlaub an der italienischen Adria ist die einzige Auslandserfahrung. Als Mella von ihrem Italien erzählt und Marie "Bella ciao" vorsingt, erkennt Marie fast nichts wieder. Marie "wollte die Welt mit Mellas Augen sehen. Größer und weiter kam sie ihr dann vor. Das Erzählen ließ die Dinge erst existieren."

Leerstellen und Lügen

Aber Marie merkt bald, dass Mella ihr beides zeigt, "das Erzählen und Totschweigen". Denn es gibt auch Leerstellen in Mellas Leben und ihren Geschichten, die alle um das "Verrücktsein der Mutter herumerzählt" sind und bisweilen lügt sie auch. Auch Cordula hat Schwierigkeiten mit dem Sprechen, sie hört Stimmen, kann sich nicht verständlich machen. Worüber sie nicht sprechen kann, schreibt sie auf, sie führt Tagebuch, das für Mella einige Jahre nach ihrem Tod zur qualvollen, aber schließlich auch befreienden Lektüre wird.

Wie schon in ihren anderen Romanen -von "Der Kunstmann" über "Aufgetrennte Tage" bis zum "Hausroman" - erkundet Gudrun Seidenauer auch in ihrem neuen Buch die Möglichkeiten und Grenzen des Erzählens und Sprechens. So hat sie in ihrem Roman "Aufgetrennte Tage" auf ebenso beklemmende wie berührende Weise vom Verlust des Gedächtnisses als Sprachverlust erzählt. Diesmal gilt ihr Interesse dem Spracherwerb der beiden Mädchen und damit verbunden ihrer Identitätsfindung. Sie entdecken ihre Gefühle, ihren Körper, ihre Sinnlichkeit und sie haben Angst vor den Dingen, die sie nicht benennen können. Mella und Marie üben, der Welt ihren Blick entgegenzusetzen, sie träumen von der Zukunft, der Sommer nach der Matura sollte der Sommer ihres Lebens werden.

Unerwartete Wiederbegegnung

Gudrun Seidenauer zeigt, wie sich langsam das Ungesagte und das Unsagbare zwischen die beiden Protagonistinnen schiebt, bis sich ihre Wege trennen und sie einander erst nach neunzehn Jahren bei einer Konferenz in Tokyo wieder begegnen, da sind beide Mitte vierzig. Mella ist freie Journalistin mit Schwerpunkt Wissenschaft, Mutter einer Tochter, Marie ist Psychologin, Wissenschaftlerin, sie hält einen Vortrag über ihre Studie zu den Frauen und Gefährtinnen von Gewalttätern, die auch als Buch sehr erfolgreich war. Seit drei Jahren arbeitet Marie an einer EU-Studie über Straftäterinnen und befragt sie nach ihren Erinnerungen.

Wir erfahren nicht, was dazwischen passiert ist -die Spannung entsteht, weil sich die Kapitel in Japan in die Fragment der Geschichte des gemeinsamen Erwachsenwerdens schieben. Distanziert und unsicher fällt die zufällige Wiederbegegnung aus, aber beide nähern sich vorsichtig an und vielleicht sprechen sie doch darüber, worüber sie damals nicht sprechen konnten. Gudrun Seidenauer gelingt mit ihrem neuen Roman ein eindrucksvolles Plädoyer für das Gespräch -und sie zeigt gleichzeitig, dass es nicht immer möglich ist, über alles zu sprechen.

Was wir einander nicht erzählten Roman von Gudrun Seidenauer Milena 2018 264 S., geb., € 24,-

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