Spuk aus der seelischen Rumpelkammer

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Krieg, Folter und gesellschaftliche Gewalt sind der Nährboden für kollektives Trauma. Die "Maimonides Lectures" zum Thema "Trauma und Gedächtnis" beleuchteten, wie schwere seelische Erschütterungen von einer Generation auf die nächste übertragen werden können.

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Krieg, Folter und gesellschaftliche Gewalt sind der Nährboden für kollektives Trauma. Die "Maimonides Lectures" zum Thema "Trauma und Gedächtnis" beleuchteten, wie schwere seelische Erschütterungen von einer Generation auf die nächste übertragen werden können.

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Das Erleben des Schrecklichen, die Erfahrung von Gewalt, von körperlichem und seelischem Schmerz können sich schwer in das Bewusstsein einbrennen. Was als Trauma bleibt, kann das Leben der Betroffenen schwer beeinträchtigen: als Störungen des Gemüts, des Selbstwerts, der Beziehungsfähigkeit, als Borderline- oder Belastungsstörung sowie als chronischer Stress mit all seinen schädlichen Folgen für den Körper. Die Häufigkeit traumatisierter Personen ist in gewisser Weise ein Barometer für den Zustand der Welt. Und global gesehen gibt es immer mehr Menschen, die von Traumatisierung betroffen sind, wie Jorge Canestri bei den fünften "Maimonides Lectures" in Wien betonte.

Die Geister der Vergangenheit

"Bei traumatisierten Menschen kehren die Geister aus der Vergangenheit wieder zurück", so der italienische Psychoanalytiker und Universitätsprofessor, der das Symposium an der Akademie der Wissenschaften mit seinem Vortrag eröffnete. "Das Trauma wird von den Betroffenen wie ein Teufel erlebt, der tief im Inneren sitzt." Erinnerungen an schreckliche Erfahrungen können vom Gehirn nicht ausgelöscht werden. Sie können aber für das "Ich" so unerträglich sein, dass sie aus dem bewussten Erleben ausgeschlossen werden, verbannt in "Abstellkammern des Unbewussten"(J. Bauer). Von dort aus ziehen sie das Seelenleben heftig in Mitleidenschaft.

Sexueller Missbrauch war die erste Ursache für Traumatisierung, die von Sigmund Freud und der von ihm begründeten Psychoanalyse näher beleuchtet wurde. Doch auch Völkermord, politische oder religiöse Verfolgung (das engere Thema der heurigen "Maimonides Lectures"), Krieg und Folter sowie die existenziell bedrohliche Flucht aus Kriegs-und Elendsgebieten sind häufige Ursachen von Traumen. Weltweit sind derzeit mehr als 65 Millionen Menschen auf der Flucht. Allein im letzten Jahr sind rund 5000 Flüchtlinge bei der Überquerung des Mittelmeers ums Leben gekommen.

"Die posttraumatische Stresserkrankung wird als neue Volkskrankheit bezeichnet", bemerkte die Wiener Psychiaterin und Psychoanalytikerin Elisabeth Brainin. Insbesondere für Experten aus dem deutschen Sprachraum seien die Nachwirkungen der Verfolgung während der Nazizeit zum wichtigsten Bezugspunkt für massive Traumen geworden. "Nach langen Auseinandersetzungen im Kampf um Entschädigung mit den deutschen Behörden nach dem Zweiten Weltkrieg hat die posttraumatische Stresserkrankung Eingang in die ärztlichen Diagnose-Systeme gefunden", so Brainin.

Unheilvoller Pakt des Schweigens

Die Analytikerin beleuchtete die weit reichenden Folgen der Traumatisierung: Wie gerade der NS-Völkermord an den Juden zeigt, gibt es eine Übertragung traumatischer Erinnerung von den Eltern auf die Kinder. Bereits die US-Analytiker Martin Bergmann und Milton Jucovy hatten anhand von Fallbeispielen die typischen Symptome der Überlebenden und der nachfolgenden Generation präsentiert: Ihr Buch "Generations of the Holocaust" (1976) galt gleich nach Erscheinen der Originalausgabe als Standardwerk für das Studium der psychischen Folgen der Schoa, insbesondere der zweiten Generation. Auch die von Judith Kestenberg mitherausgegebene deutsche Ausgabe "Kinder der Opfer. Kinder der Täter"(1995) sorgte für Aufsehen. Die Verfolgung und Vernichtung von Millionen Juden und deren Kultur hatte ganz offensichtlich auch Spuren bei den Nachfahren, die nach der Befreiung geboren wurden, hinterlassen.

"In manchen Familien von Überlebenden gab es einen sogenannten Pakt des Schweigens, in anderen hingegen wurde über die Zeit der Verfolgung und Vernichtung gesprochen", so Brainin. Dementsprechend unterschied sich die Ich-Entwicklung der Kinder: Die einen konnten die Stimmungszustände der Eltern mit deren realen Erfahrungen in Zusammenhang bringen; den anderen standen keine Deutungsmuster für die Zustände der Eltern zur Verfügung, ihre Entwicklung war daher störungsanfälliger.

Wie aber funktioniert die Übertragung eines Trauma von einer Generation auf die nächste? Zunächst ist davon auszugehen, dass Angst und Trauer als ständige Begleiter der Befindlichkeit der Eltern sich in einer unbewussten Kommunikation auch den Kindern mitgeteilt haben. Aber auch auf rein biologischer Ebene gibt es Hinweise, dass traumatische Stresseffekte an die nächste Generation weitergegeben werden können.

Epigenetische Veränderungen

In einer US-Studie von 2015 etwa hatten sich bei 32 jüdischen Überlebenden des Nazi-Terrors als auch bei deren erwachsenen Kindern signifikante Veränderungen in der Epigenetik (Wirkung äußerer Einflüsse auf die Genfunktion) gezeigt: Durch die Stresserfahrung der Eltern hatte sich die Aktivität an einer bestimmten Stelle im Erbgut verändert -und zwar in jener Genregion, die für die Steuerung der Stresshormone zuständig ist. Genau die gleiche epigenetische Veränderung war auch bei den Kindern zu beobachten, obwohl diese nachweislich keine traumatische Erfahrung hinter sich hatten. Dies bestätigt die Annahme, dass auch genetische Faktoren für das Risiko traumatischer Symptome in der nächsten Generation eine Rolle spielen.

Für die Heilung vom Trauma ist das soziale Umfeld hoch relevant, wie Brainin betonte: "Ein kollektives Trauma muss zunächst gesellschaftlich anerkannt werden, um den Opfern die Möglichkeit zu bieten, ihre Traumatisierung verarbeiten zu können." Dies sei Voraussetzung dafür, die seelische Verletzung integrierbar zu machen. Doch wie die Erfahrung der Nachkriegszeit zeigt, bleibt diese Anerkennung den Opfern oft lange verwehrt. "Die Nachkriegsschuld der österreichischen Gesellschaft bestand vor allem im Verschweigen und Vertuschen, in der Lüge und Schönfärberei", resümierte Brainin. "Für Überlebende von Völkermord, Krieg und Folter, die heute in Europa Zuflucht suchen, gilt dies ebenso: Ihr Trauma muss Anerkennung finden, um die Trauma-Kette nicht über mehrere Generationen weiterzuführen."

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