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Nach eineinhalb Jahrzehnten präsentieren sich die Anthropologie-Säle des Naturhistorischen Museums nunmehr rundum erneuert und wissenschaftlich überarbeitet dem Publikum.

Liebe, Trauer, der Glaube an ein Leben nach dem Tod: All das müssen jene Menschen gekannt haben, die vor etwa 28.000 Jahren im Gebiet des heutigen Krems lebten. Denn eines Tages bestatteten sie zwei Neugeborene. Sie wurden in eine Grube gelegt, ihre toten Augen blickten nach Osten, in Richtung der aufgehenden Sonne. Die Hinterbliebenen legten den Babys eine Kette mit Schmuckperlen ins Grab, bestreuten die Leichname mit einer Schicht Rötel; zum Schluss bedeckten sie die Körper noch mit einem eigens zugeschnittenen Schulterblatt eines Mammuts. Dieser archäologische Fund, der 2005 durch die Weltpresse ging, erhält nun einen würdigen Rahmen, in dem er - selbstverständlich nur in Form einer Kopie - dem breiten Publikum zugänglich ist: In den neuen Anthropologie-Sälen des Naturhistorischen Museums Wien, die diese Woche eröffnet wurden.

Nicht weniger als 16 Jahre lang blieb die Entwicklung des Menschen in den Schauräumen des Naturhistorischen Museums ausgeblendet. Ab 1996 nämlich wurde die alte Anthropologie-Schau sukzessive abgebaut, die verbliebenen Vitrinen wurden hinter Sonderausstellungen versteckt, bis die anthropologischen Säle 1999 endgültig dichtgemacht wurden. Denn die Schau war nicht nur wissenschaftlich komplett veraltet, sondern auch aus ethischen Gründen nicht mehr tragbar. Im sogenannten "Rassensaal“ nämlich wurde die Menschheit in höhere und niedere Rassen eingeteilt, was - ganz abgesehen von der menschenverachtenden Hierarchisierung - schon zur Zeit der Eröffnung des "Rassensaales“ im Jahr 1978 nicht mehr dem aktuellen wissenschaftlichen Stand entsprach. Spätestens seit Untersuchungen des menschlichen Genoms ergaben, dass die genetischen Unterschiede innerhalb einer ethnischen Gruppe größer sind als zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen, war der Begriff der Rasse in der Anthropologie obsolet. "Rasse ist in der modernen Anthropologie kein Thema“, sagt Maria Teschler-Nicola, Direktorin der Anthropologischen Abteilung, klipp und klar.

Repräsentative Auswahl an Fossilien

In den beiden neuen Sälen wird der Mensch und seine Entwicklung auf inhaltlich und formal zeitgemäße Art präsentiert. Gezeigt wird nicht nur eine repräsentative Auswahl an Fossilien, die in diesem Umfang der Öffentlichkeit bisher nicht zugänglich waren, zu sehen sind auch Weichteilrekonstruktionen von Australopithecinen, Neandertalern, von Homo erectus und Homo sapiens, eine Morphing- und eine Augmented-Reality-Station sowie ein "CSI-Tisch“, auf dem die Besucher ein virtuelles Skelett mittels Mikroskop, Lupe oder Röntgen und Isotopenuntersuchung auf Alter, Geschlecht und Art untersuchen können. Wem die ohnehin sehr ausführlichen Informationstafeln nicht genug sind, kann sich an mehreren Tablets mit Touchscreens noch weiter in das jeweilige Thema vertiefen.

Entwicklungslinien im Dunklen

Die Zwillinge von Krems sind nicht die einzigen Objekte aus Österreich. Die 1876 gegründete Anthropologische Abteilung am Naturhistorischen Museum in Wien zählt mit ihrer 60.000 Objekte umfassenden Sammlung zu den bedeutendsten dieser Art weltweit. Sie beherbergt auch zu Zeiten der Donaumonarchie gefundene Knochen aus dem südmährischen Mladec, die mit einem Alter von 31.000 Jahren zu den ältesten Funden von Homo sapiens sapiens in Europa gehören und nun erstmals in einer Dauerausstellung zu sehen sind. Doch die neuen Anthropologie-Säle präsentieren auch eine Reihe prominenter Fossilien, die in Museen und Universitäten in der ganzen Welt beheimatet sind. Wohl keine Einrichtung könnte die Entwicklung der Menschheit allein mit Objekten aus der eigenen Sammlung ausreichend abdecken.

So ist Wien nun eine Kopie von Lucy zu sehen, dem berühmten Skelett einer Australopithecus-Frau, die vor 3,2 Millionen Jahren im heutigen Äthiopien lebte. Ihre Knochen zeigen eindeutige Anpassungen an den aufrechten Gang. Die Spuren, die sie hinterlassen hätte können, werden durch einen anderen bekannten Fund illustriert: die Fußspuren von Laetoli (Tansania). In den Boden des Naturhistorischen Museums sind jene Fußabdrücke eingelassen, die vor 3,6 Millionen Jahren drei aufrecht gehende Vormenschen in frischer und von leichtem Regen angefeuchteter vulkanischer Asche hinterlassen haben.

Die genauen Entwicklungslinien, die zum Menschen und dann weiter zum heutigen Homo sapiens führten, liegen nach wie vor im Dunklen. Man spricht auch nicht mehr vom "Stammbaum“ der Menschheit, sondern zeichnet lieber das Bild des "Stammbusches“. Ein solcher "Stammbusch“ aus Glas ist in der Schau installiert, um den vagen Charakter der auf fragmentarischen fossilen Zeugnissen basierenden Rekonstruktionsversuche anzudeuten. Weltweit gibt es nur etwa 3000 fossile Funde von Australopithecus und Homo sapiens. Die Installation führt auch vor Augen, dass es erst seit erdgeschichtlich sehr kurzer Zeit nur eine einzige Art von Menschen gibt. Noch vor 20.000 Jahren lebten Neandertaler, Homo sapiens sapiens (also wir) und Homo floresiensis nebeneinander. Überreste jener Gattung wurden erstmals 2003 auf der indonesischen Insel Flores entdeckt.

Mensch gegen Neandertaler

Die neuen Schausäle machen auch deutlich, dass die biologische Entwicklung des Menschen nicht von der kulturellen zu trennen ist. Spätestens in der mittleren Eiszeit, also vor 800.000 bis 150.000 Jahren, war das menschliche Gehirn so groß und vermutlich auch genauso aufgebaut wie das eines heutigen Menschen. Alles spricht dafür, dass diese Menschen bereits über eine Sprache verfügten, dass sie soziale Wesen waren, dass sie über das selbe Spektrum an Emotionen verfügten wie wir. In der spanischen Sierra de Atapuerca zum Beispiel wurde das Skelett eines Homo heidelbergensis ausgegraben, der vor rund einer halben Million Jahre lebte und viele Jahre mit einer durch eine Beckenverletzung hervorgerufenen schweren Behinderung durchstand. Ohne Pflege und Fürsorge seiner Mitmenschen hätte der von den Anthropologen "Elvis“ getaufte Mensch sicher nicht überleben können, erzählt Teschler-Nicola.

Das Naturhistorische Museum belegt die Fähigkeiten der frühen Menschen mithilfe von Steinwerkzeugen und Jagdwaffen, deren Herstellung ohne sprachliche Tradierung wohl nicht möglich gewesen wäre. So kann der Besucher moderne Nachbauten jener 400.000 bis 270.000 Jahre alten Wurfspeere bewundern, die im deutschen Schöningen gefunden wurden. Diese perfekt gefertigten Waffen können heutige Olympioniken ebenso weit werfen wie moderne Sportspeere, nämlich rund 70 Meter.

Die Wissenschaft hat sich schon längst von dem Bild verabschiedet, das es sich bei den prähistorischen Menschen um brutale Rohlinge handelte, die nichts Besseres zu tun hatten, als mit einer Keule alles kurz und klein zu schlagen. Das gilt nicht nur für unsere eigenen Vorfahren, sondern auch für die Neandertaler, denen natürlich auch ein Bereich in den neuen Sälen gewidmet ist. Auch sie verfügten über eine Sprache, machten Musik und bestatteten ihre Toten. Warum der Neandertaler ausstarb, ist eine nach wie vor ungeklärte, aber faszinierende Frage. Starb er aus, weil er sich nicht in ausreichendem Maß fortpflanzte, oder trug der moderne Mensch dazu bei, dass sein Verwandter von der Erde getilgt wurde?

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