Spurensuche in der Zielgeraden

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Das Kernforschungsinstitut CERN steht kurz davor, das seit Langem gesuchte Higgs-Teilchen zu entdecken - oder seine Existenz endgültig auszuschließen.

Zum Jahresende ist das öffentliche Interesse an der Teilchenphysik wieder einmal stark nach oben geschnellt. Der Grund: De europäische Organisation für Kernforschung, besser bekannt als CERN, hielt in Zürich ein öffentliches Seminar ab. Im Vorfeld der Veranstaltung kursierten zahlreiche Gerüchte im Internet, wonach die Vortragenden die lang ersehnte Entdeckung des berüchtigten Higgs-Teilchens verkünden würden. Gemessen an dieser Erwartung verlief das Seminar zwar nur wenig spektakulär. Die Existenz des Teilchens wurde weder bestätigt noch ausgeschlossen. Allerdings ist es gelungen, den Suchraum stark einzuschränken. "Zum jetzigen Zeitpunkt können wir noch nichts Endgültiges sagen - wir benötigen noch mehr Daten“, erklärt CERN-Physikerin Fabiola Gianotti. Aber: "Im Jahr 2012 werden wir das Rätsel endgültig lösen können.“

Warum ist das Higgs-Teilchen so interessant für die Wissenschaft? Als Antwort auf die Frage, was die Welt in ihrem Innersten zusammenhält, hat die Kernphysik das sogenannte Standardmodell der Elementarteilchen parat. Es ist eine Menge zusammenhängender Theorien, deren mathematischer Formalismus beschreibt, welche Teilchen existieren, welche Eigenschaften sie haben und wie sie miteinander wechselwirken. Demnach besteht Materie aus zwölf Elementarteilchen, zwischen denen drei Arten von Grundkräften wirken (Gravitation als vierte Grundkraft kann bisher nicht im Rahmen des Standardmodells erklärt werden). Dieses Modell ist experimentell hervorragend bestätigt, hat allerdings einen kleinen Schönheitsfehler. Um zu erklären, warum Teilchen Masse besitzen, hat der Physiker Peter Higgs 1964 die Existenz des heute nach ihm benannten Higgs-Bosons postuliert. Bis dato ist es allerdings nicht gelungen, dieses Teilchen experimentell nachzuweisen. Das Higgs-Teilchen ist das letzte fehlende Puzzlestück, um das Standardmodell endgültig zu bestätigen oder zu widerlegen. Um ein Higgs-Teilchen unter kontrollierten Bedingungen zu erzeugen, benötigt man so hohe Energien, wie sie technisch derzeit nur am Teilchenbeschleuniger LHC (Large Hardon Collider) des CERN in Genf erreicht werden.

600 Millionen Kollisionen pro Sekunde

Die Anlage besteht aus einem 27 Kilometer langen, kreisförmigen Tunnel, der sich bis zu 150 Meter unter der Erde befindet. Darin werden jeweils zwei Pakete aus Protonen in entgegengesetzter Richtung auf annähernde Lichtgeschwindigkeit beschleunigt. Im Inneren von vier riesigen Detektoren kollidieren die Protonen miteinander. Jede Sekunde finden etwa 600 Millionen Kollisionen statt. Die dabei freigesetzte Energie von 14 Teraelektronenvolt erzeugt sämtliche bekannten Elementarteilchen, also Materie. Weil die meisten Teilchen im Sekundenbruchteil wieder in andere, stabile Teilchen zerfallen, müssen diese Abläufe von hoch exakten Detektoren aufgezeichnet und später ausgewertet werden. Dies unterscheidet die Suche nach Elementarteilchen von der viel zitierten Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Sobald die Nadel gefunden ist, kann man sie in die Hand nehmen und näher untersuchen. Elementarteilchen lassen sich erst im Nachhinein indirekt nachweisen, wenn sie längst wieder zerfallen sind.

Das gilt auch für das Higgs-Teilchen. Man weiß, welche Zerfallsprozesse stattfinden sollten, sofern das Teilchen existiert. Leider weiß man nicht, welche Masse es hat. Deshalb müssen die Physiker am CERN einen großen Bereich möglicher Zerfallsdaten für sämtliche mögliche Massewerte des Higgs-Teilchens untersuchen. Seit der LHC in Betrieb ist, haben die Detektoren rund eine Billiarde Kollisionen registriert. Eine gewaltige Datenmenge, deren Auswertung Supercomputer und vor allem jede Menge Statistik erfordert. Es reicht nämlich nicht aus, ein paar "passende“ Zerfallsprozesse zu entdecken. Diese könnten zwar das Resultat eines zerfallenen Higgs-Teilchens sein. Sie könnten aber ebenso gut von anderen Teilchen verursacht worden sein. Es gilt deshalb, jene Zerfallsprozesse herauszufiltern, die "unauffällig“ sind - also aufgrund der Theorie des Standardmodells ohnehin erwartet werden. Interessant sind dagegen die statistischen Ausreißer. Dabei sind die Physiker besonders anspruchsvoll. Sie fordern, dass eine Messung, die auf das Higgs-Teilchen hinweist, mit mindestens 99,9999 Prozent kein statistisches Hintergrundrauschen ist. Um diesen hohen Grad an Sicherheit zu erreichen, benötigt man noch mehr Daten als bisher ausgewertet wurden. Das ist die Grundaussage des letztwöchigen Seminars am CERN. Allerdings konnte die weitere Suche nach dem Higgs-Teilchen stark eingeschränkt werden. Die vorhandenen Daten legen nahe, dass das Partikel etwa die 125-fache Masse eines Protons hat. Sofern es existiert, wie man stets einschränkend dazu sagen muss. Wenn der LHC nach der Winterpause im Frühjahr wieder den Betrieb aufnimmt, wird er weitere Daten liefern. Funktioniert die Anlage nächstes Jahr so reibungslos wie heuer, sollten die neuen Messdaten ausreichen, um eine endgültige Aussage über das Higgs-Teilchen zu treffen.

Beide Resultate hätten etwas für sich. Im ersten Fall wäre das Standardmodell bestätigt. Doch auch im gegenteiligen Fall wäre die Gemeinschaft der Kernphysiker nicht unglücklich, würde das doch die Entwicklung weitgehend neuer Theorien erfordern. "Das Standardmodell beschreibt nur fünf bis sechs Prozent der Materie, den Rest müssen wir noch erforschen“, meint CERN-Direktor Rolf-Dieter Heuer. "Es gibt noch viel zu tun.“

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