Staates Macht, Publikums Ohnmacht

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Die Wiener Festwochen präsentieren sich heuer als Kultur-Festival mit Farbe und Vielfalt. Sind es auch nur zwei Produktionen, die tatsächlich aus Russland kommen, so lässt sich dennoch eine russischen Spur im diesjährigen Festwochenprogramm finden.

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Die Wiener Festwochen präsentieren sich heuer als Kultur-Festival mit Farbe und Vielfalt. Sind es auch nur zwei Produktionen, die tatsächlich aus Russland kommen, so lässt sich dennoch eine russischen Spur im diesjährigen Festwochenprogramm finden.

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Befragt nach dem Russischen in ihrem Festwochenprogramm, reagierte die Schauspielchefin Marina Davydova kurz und korrekt: Gerade zwei Produktionen kämen aus Russland. Punkt. Es war die Antwort einer international arbeitenden Fachfrau, die den Verdacht, hier und heuer "russische Festwochen" zu veranstalten, parieren wollte. Mit Jan Fabre, Dimitris Papaioannou und dem Stück "Die Anpassung" (einer mit Spannung erwarteten Produktion aus Teheran) hat Davydova auch bewiesen, dass sie einschätzen kann, was diese Festwochen an Farbe und Vielfalt brauchen.

Ist das klargestellt, lässt sich in ihrem Programm doch eine starke russische Spur finden: Frank Castorfs dramatisierte Fassung von Andrej Platonows Roman "Tschewengur" hat den Auftakt geliefert: Das Scheitern der (oder mutmaßlich) jeder Revolution durch die ganz persönlichen Obsessionen ihrer Protagonisten wirkt wie ein grundlegender Befund. Vlad Troitskyis ukrainische Mädchenband, die perversen Spielereien von Fyodor Pavlov-Andreevich, Heiner Müllers "Der Auftrag" (Schauspiel Hannover), selbst Gorkis "Nachtasyl" in der Inszenierung von Oskaras Kors unovas arbeiten sich direkt oder indirekt an diesen gescheiterten Träumen ab.

Was hat das 20. Jahrhundert angerichtet?

Während sich nun Castorf in Stuttgart, Troitskyi in Kiew, Kors unovas in Vilnius, Zholdak in Skopie (seine Adaption von Stanislaw Lems Roman "Solaris" wird bei den Festwochen noch zu sehen sein) Gedanken darüber machen, was das zwanzigste Jahrhundert mit ihnen und uns angerichtet hat, scheint diese Frage Moskau herzlich egal zu sein. Genau davon handelt die Inszenierung des russischen Regisseurs Konstantin Bogomolov. Gespielt wird das Stück "Der ideale Gatte", sehr frei nach Oscar Wilde, versetzt mit Shakespeare, Puschkin, Tschechow und allem, was sonst noch gut und teuer ist.

Es ist, um es kurz zu sagen, eine hervorragende, ja brillante Aufführung. Bogomolov bemüht sich gar nicht, irgendetwas zu kaschieren, durch die Blume zu sagen, anzudeuten. Die Inszenierung ist genau so grob wie die Leute, die im Publikum sitzen. Die Olympiade in Sotschi, ein Präsident (sieht aus wie Erdogan und spricht wie der tschetschenische Präsident Kadyrow), die korrupten Minister, die willfährige Klerisei, die landesweit bekannten Pop-Idole, sie alle werden in den dreieinhalb Stunden durch den Kakao gezogen. Das alleine ist, oberflächlich betrachtet, schon lustig genug, die Inszenierung erklärt aber auch, warum das alles in Sichtweite des Kreml ohne weiteres möglich ist: Die hier gezeigte Gesellschaft ist im wesentlichen eine Gesellschaft ohne Gedächtnis, hier hemmt kein Verantwortungsgefühl, hier gibt es kein Geschichtsbewusstsein. Die Amnesie ist total. Ob sie den Ferrari mit 300 Sachen gegen die Kremlmauer fahren oder in den teuersten Restaurants der Stadt herumlungern - das alles zu wissen, hilft uns, dem Publikum, gar nichts. Aber nicht, weil uns die Liebesgeschichte zwischen dem Minister für Gummiwaren und dem scheußlichen Barden mit dem Künstlernamen "Lord" nicht rühren würde. (Das ist in etwa, was von Oscar Wildes Bühnenstück übrig geblieben ist.) Sondern weil es in Moskau keinen Ort mehr gibt, an dem die Beobachtung dieser Betrugs-und Erpressungsgeschichte Konsequenzen haben könnte. Bogomolovs Botschaft lautet: Hier gibt es nichts zu enthüllen, in dieser Welt liegt längst alles offen da - vor allem aber eure Machtlosigkeit, die unendliche Machtlosigkeit des Publikums.

Schaltet und waltet aber einmal die Macht, wie sie will, und fehlen die Korrektive von Recht und Öffentlichkeit, bekommt nicht zuletzt auch die Kulturpolitik leicht einen Zug ins Irrationale. Niemand vermag mit letzter Sicherheit zu sagen, warum Bogomolow in Moskau der Gesellschaft den Spiegel hinhalten darf und im entfernten Novosibirsk eine konventionelle "Tannhäuser"-Inszenierung plötzlich die Aufmerksamkeit der Staatsmacht erregt.

Herzzerreißend in Gebärdensprache

Im Zentrum dieser Kalamitäten stand der junge Regisseur Timofej Kuljabin, der nun mit einer Inszenierung von Tschechows "Drei Schwestern" bei den Festwochen zu sehen war. Egal, ob vor einem Publikum gespielt wird, das den Tschechow'schen Text mitsprechen kann oder nicht, das Angebot, das Stück einmal in Gebärdensprache zu sehen -und, ja, auch zu hören, ist ebenso herausfordernd wie reizvoll. Das Spiel tritt dominierend vor das Wort. Gleichzeitig wurde die Klage, Theatertexte würden gerne als Rohmaterial für krude Eigenschöpfungen missbraucht, unterlaufen, in dem der Originaltext - authentisch und sozusagen unverletzt -als Untertitel mitgeliefert wird. Auch wenn man das Stück schon dutzende Male gesehen hat, dieses spannungsvolle Nebeneinander von Emotion, Sprache und Text hat man so garantiert noch nie erlebt.

Das hervorragende Ensemble, die bis ins kleinste Detail durchdachte Inszenierung und das gelungene Bühnenbild haben hier ein sehr bedenkenswertes Angebot gemacht. Das Wichtigste aber bleibt natürlich die Wirkung des Stückes. In den "Drei Schwestern" finden sich ja die ahnungslosesten, rührendsten und verzweifeltsten Ausführungen, die je zum Thema "Arbeit und Erwerbstätigkeit" erdacht wurden. Sie waren auch in russischer Gebärdensprache herzzerreißend.

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