"Stabile Beziehungen, strukturierter Alltag"

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Wie sich die Fluchterfahrung unbegleiteter Minderjähriger in der Schule auswirken kann und wie Lehrkräfte damit umgehen können, erklärt Brigitta Srncik, Leiterin der Abteilung Schulpsychologie und Bildungsberatung im Wiener Stadtschulrat.

Die Furche: Wie wirkt sich eine monatelange Flucht auf die Kinderpsyche aus?

Brigitta Srncik: Es kommt drauf an, wie lange die Flucht gedauert hat und welche dramatischen Ereignisse es gab. Musste ich Angst haben um mein Leben oder um das meiner Begleitpersonen? Das ist eine lang andauernde Stresssituation vom Tag der Flucht, vielleicht mit leichter Entspannung da und dort, bis zur Ankunft in einem Land, wo man zur Ruhe kommen kann. Selbst dann dauert es noch eine Weile, bis der Körper alle Stresshormone abgebaut hat.

Die Furche: Wie unterscheidet sich die Situation der unbegleiteten Minderjährigen, die ohne Familie gekommen

sind? Srncik: Wenn sie die Erfahrung gemacht haben, dass sie sich auf Erwachsene verlassen und Hilfe annehmen können, wenn sie merken, dass es ein solides und beständiges neues Umfeld gibt, können auch sie wieder Vertrauen fassen in die neue Umgebung. Die Frage ist immer: Mit welchen Ressourcen und Vorerfahrungen kann der Jugendliche hier in Mitteleuropa Fuß fassen?

Die Furche: Welche Anzeichen sind Warnsignale, dass die Kinder belastet sind?

Srncik: Wenn Kinder kaum Kontakt aufnehmen, nur sehr leise antworten, nur zaghaft Blickkontakt aufnehmen. Nicht die kognitive Herausforderung erschwert dann das Lernen, sondern die Ängste, das mangelnde Selbstvertrauen. Dieses muss mit Geduld, stabilen Beziehungsangeboten und einem klaren Ordnungsrahmen langsam aufgebaut werden. In der Schule sollten möglichst wenige Lehrer zuständig sein, sodass man eine engere Beziehung aufbauen kann. In den betreuten Wohngemeinschaften der Kinder sollte es auch ein konstantes Team geben. Die Kinder sollten genau wissen: Das ist mein Deutschkurs, das ist meine Stammklasse, das ist mein Schulweg. Wichtig ist auch das Vertrauen: Was von mir verlangt wird, schaffe ich auch.

Die Furche: Wie können Pädagogen herausfinden, ob Leistungsprobleme psychische Ursachen haben?

Srncik: Wenn Lehrer über längere Zeit die Lernfortschritte ihrer Schüler beobachten, sehen sie, wie Schüler mit neuen Lernangeboten umgehen. Die Kinder aus Syrien sind generell gut gebildet, viele sprechen schon sehr gut Englisch. Bei diesen Kindern merkt man, wie schnell sie sich auf neue Inhalte einstellen und Lernerfolge erzielen.

Die Furche: Sollte die Flucht in der Schule thematisiert werden?

Srncik: Es ist nicht günstig, die Flucht gleich zu stark zu thematisieren, sondern abzuwarten, was vom Kind kommt. Die Sprachkurse sind spielerisch aufgebaut, sodass die Kinder Spaß und Erfolgserlebnisse haben. Sie sollten nicht anders behandelt werden als andere Schüler. DIe Furche: Wann sind Schulpsychologen gefragt? Srncik: Kleinere Konflikte macht die Schule intern aus, es gibt ja Unterstützungssysteme.- Wenn man erkennt, dass die Flüchtlingskinder emotional stark belastet sind, dass sie im Unterricht und im sozialen Miteinander unbeteiligt sind, sollte die Schulpsychologie kontaktiert werden. DIe Furche: Welche Rolle spielen kulturelle Unterschiede in der psychologischen Betreuung von arabischen Kindern? Srncik: Es kann passieren, dass Männer im Schulsystem schneller bei Burschen an Respekt gewinnen, aber gerade in der Pflichtschule ist der männliche Lehrer unterrepräsentiert. Wenn Schüler disziplinär auffallen, geht das quer durch alle Ethnien. Da tun sich Männer teils leichter.

Die Furche: Welche Rolle spielen Geschlechterunterschiede bei den Flüchtlingskindern?

Srncik: Die Burschen agieren eher lauter und extrovertierter, um gehört zu werden. Die Mädchen sind angepasster und ruhiger. Das liegt auch an der Erziehung.

Die Furche: Werden die Flüchtlingskinder unabhängig vom Bildungsstand altersgemäß eingestuft ?

Srncik: Wir versuchen generell immer, altersgemäß einzustufen. Ein elfjähriges Kind kann man nicht mit Sechsjährigen in die Klasse geben, auch wenn es erst einmal unser Alphabet lernen muss.

Das Gespräch führte Sylvia Einöder

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