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Starthilfe statt Dauerunterstützung: Bei der Förderung von Menschen mit Behinderung setzt man in Äthiopien auf die Eigenständigkeit der Betroffenen.

Aus dem Lautsprecher tönen Disco-Klänge von Afro Teddy und der Siebzigerjahre-Legende Mahmoud Ahmad. "Wer ein Auto hat, der betreibt zugleich einen Massage-Salon“, lacht ein von den Straßenverhältnissen sichtlich gebeutelter Zewdu Amde und manövriert seinen Geländewagen geschickt durch die über und über grün bewachsene Hügellandschaft. Zügig bis rasant, dafür aber weitgehend ohne Hupen - so ist wohl am ehesten der Verkehr im 90-Millionen-Land zu beschreiben.

Die teuersten Autos der Welt

Äthiopien - Land der Gegensätze: Während in der Hauptstadt Gas gegeben wird, sind die Straßen im Landesinneren fahrzeugtechnisch ausgedünnt. Umgerechnet 62 Euro-Cent pro Liter Sprit - das können sich in einem Land, in dem ein Viertel der Bevölkerung mit weniger als einem Dollar pro Tag leben muss, nur wenige leisten. "Lange Jahre war unsere KFZ-Werkstätte ein Renner. Nun haben wir es aufgeben. Bei Benzinpreisen von 16 Birr pro Liter sind auch die Fahrten zu teuer geworden“, weiß der aus Irland stammende katholische Ordensmann Patrick. Weil der äthiopische Fiskus seiner Bevölkerung beim Neuerwerb eines Wagens eine Steuer von 240 Prozent des Kaufpreises aufschlägt, blühen statt der Verkaufs- höchstens die Reparatur-Zahlen. Trotz ausgedünntem Fahrzeugmarkt sind die äthiopischen Straßen dennoch ausgelastet: Am Land bevölkern Menschenmassen als auch Tierherden zu jeder Tages- und Nachtzeit die Asphalt- und Sandwege.

Dieser Tage erinnert Äthiopiens Hauptstadt Addis Abeba, geschmückt mit großen Transparenten und blinkenden Leuchtschriften, an die Gründung der Organisation für Afrikanische Einheit (OAU), die als Vorgängerorganisation der Afrikanischen Union (AU) zum Zweck wirtschaftlicher und militärischer Einheit ins Leben gerufen wurde. Genau hier, im Herzen der "Wiege der Menschheit“, lud vor fünfzig Jahren der legendenumwobene und vom Jahrhundertjournalisten Ryszard Kapuscinski als Machtmensch beschriebene Haile Selassie alle namhaften afrikanischen Staatsmänner zum Bankett. Zu diesem Zeitpunkt war der gebürtige Tafari Makonnen die Karriereleiter am äthiopischen Hof bereits emporgeklettert. Im Jahr 1930 wurde Haile Selassi, was so viel wie "Macht der Dreifaltigkeit“ bedeutet, zum Kaiser gekrönt. Noch heute wird sein Andenken vor allem von Rastafaris hochgehalten - Bob Marley tat dies ebenfalls.

Mehr als nur Kaffee

Weihrauch, Kaffee, Popcorn: Was in Europa fein säuberlich getrennt in Kirche, Wohnzimmer und Kino vermutet wird, gehört im größten Binnenstaat der Welt unweigerlich zusammen. Und anders als in Ländern, in denen die traditionelle Kaffee-Haus-Kultur immer stärker dem Coffe-to-Go weicht, braucht, wer in Äthiopien Kaffee trinkt, vor allem Zeit. Vom Rösten der Kaffeebohnen bis zur Zubereitung des aufputschenden Getränkes selbst, von der Verwandlung der Maiskörner in knackiges Popcorn: Jeder Arbeitsschritt wird, unter dem Verströmen intensiver Weihrauch-Schwaden, zelebriert. In einem Dorf im Süden des Landes dient die Versammlung der Dorfbewohner um den niedrigen Holztisch nicht nur dem sozialen Austausch. Vielmehr bereden die dreißig Bewohner nahe von Soddo an diesem Vormittag ihre Erfahrungen mit kranken und behinderten Familienmitgliedern. "Anfangs dachte ich, die Epilepsie meiner Tochter sei ein Werk des Teufels. Heute weiß ich, dass es dagegen Medikamente gibt“, erklärt eine junge Dorfbewohnerin ihrem skeptischen Nachbarn im Zuge dieses Kaffee-Tratsches.

Weg zum Kleinstunternehmen

"War es deine Schuld oder meine?“ Das haben sich auch die Eltern des elfjährigen Sasika Shaka gefragt. Heute richtet die 26-jährige Mutter den Fokus auf das Erlernen der Gebärdensprache, um sich mit ihrem gehörlosen Sohn adäquat verständigen zu können. Vor ihrer Hütte in einem Dorf nahe Arba Minch beweist sie Besuchern ihr Können und buchstabiert fleißig mit den Händen. Tafesse Chirbo lobt die Frau und wirft einen Blick auf ihre schriftlichen Aufzeichnungen des Übungsverlaufs.

Vor 18 Jahren setzte der Behinderten-Pädagoge hier seine Idee mit Start-Geldern der Caritas Niederlande in die Tat um und begann, nach Menschen mit Behinderung zu suchen, die im Verborgenen leben. Name, Familiengeschichte, Erkrankung oder Behinderung - all das erfasste er und machte es zum Ausgangspunkt seiner Arbeit, die mittlerweile von der Organisation "Licht für die Welt“ unterstützt wird. "Unser Schwerpunkt liegt auf Frauen und Kindern unter 18 Jahre, die wir unter den Ärmsten der Armen finden.“

Im "Arba Minch Rehabilitation Center“ ausgebildete Sozialarbeiter und Physiotherapeuten besuchen die Familien regelmäßig und treffen eine Vereinbarung, in der sich die Eltern verpflichten, aktiv an der Genesung ihrer Kinder mitzuarbeiten. "Im Grunde ist es einfach. Wir finden heraus, was ein Kind kann, und was nicht und fokussieren uns dann auf letzteres.“ Im Falle des zwölfjährigen Israel ist es eine zerebrale Lähmung, ausgelöst durch Sauerstoffmangel bei der Geburt. "Bis vor zwei Jahren konnte Israel nur liegen.“ Heute beweist der Junge stolz, dass er eigenständig in den Rollstuhl klettern kann. Und wie bei Sasika sind auch seine wichtigsten Lehrer innerhalb der Familie zu finden. Israels neunjährige Schwester Tirunesh gilt als seine engste Vertraute. Sie weiß seine Äußerungen zu deuten und übt mit ihm das Alphabet. Von seinen protestantischen Eltern wird Israel anders unterstützt: indem sie nach ökonomischer Eigenständigkeit trachten. Wer sich zur Förderung eines Familienmitglieds mit Behinderung verpflichtet, erhält über das "Community Based Rehabilitation“-Programm auch das Startgeld für ein eigenes Kleinstunternehmen. "Nahezu alle unsere Familien sind als Mikrokredit-Nehmer miteinander vernetzt oder sind Selbstvermarkter“, weiß Getachew Aberra, Programmverantwortlicher von "Licht für die Welt“ Äthiopien.

Die Mutter der zwölfjährigen Barakat etwa, die an Zerebralparese leidet, verkauft selbst hergestellte Keramik-Teller, auf denen Injera, äthiopisches Fladenbrot, gereicht wird. Sasikas Mutter betreibt eine kleine Geflügelfarm; Israels Mutter braut Bier; sein Vater handelt mit Second-Hand-Kleidung. Damit bauen viele Eltern behinderter äthiopischer Kinder aktiv an der Zukunft ihrer Kinder mit. Die finanzielle Unterstützung bleibt damit Starthilfe im Gegensatz zu einer Dauer-Unterstützung, die alles andere als unabhängig macht.

König der Könige.

Eine Parabel der Macht.

Von Ryszard Kapuscinski. Piper-Verlag 2013.

262 Seiten, kart., € 22,90

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