Man kam aus dem Staunen nicht heraus an diesem Wahlsonntag: Da hatte es tatsächlich einer geschafft, den (fast) kontinuierlichen Stimmenverlust seiner Partei, der sich auf 16 lange Jahre verteilt hatte, auf einen Schlag so gut wie wettzumachen: Wolfgang Schüssel brachte die ÖVP beinahe dort hin, wo sie 1986 unter Alois Mock gewesen war.
Die Voraussetzung dafür war offensichtlich, dass Schüssel 1999 tat, was sich Alois Mock 1986 nicht getraut hatte: Er ging das Risiko einer Koalition mit der FPÖ unter Jörg Haider ein.
In den Nachwahlanalysen ist oft davon die Rede, dass es in diesem Land eine "strukturelle bürgerliche Mehrheit" gibt. Das stimmt, und zwar nicht erst seit 1986. Dass die Sozialisten unter Bruno Kreisky von 1971 bis 1983 absolut regierten, zeigt nicht, dass in dieser Zeit die strukturelle bürgerliche Mehrheit verloren gegangen wäre. Es zeigt, dass Kreiskys SPÖ bürgerlich genug war, um die sozialdemokratische Minderheit und Teile des bürgerlichen Lagers zu einer neuen, zu seiner Mehrheit zusammenzufassen.
Man müsste historisch blind sein, wollte man nicht erkennen, dass Wolfgang Schüssel 1999 etwas getan hat, das Bruno Kreisky 1970 begann: Mit einem kühnen Schachzug, den man durchaus als Tabubruch deuten kann und den man nicht schätzen muss, hat er die FPÖ, die seit jeher das Scharnier zwischen dem bürgerlichen und dem sozialdemokratischen Lager war, für seine Zwecke instrumentalisiert.
Dass die Sozialdemokraten unter Alfred Gusenbauer das auch nach der Wahl noch nicht begriffen haben, ist der zweite Anlass zum Staunen: Die Spitzen der SPÖ glauben tatsächlich, dass der Zugewinn einiger Prozentpunkte auf knapp 37 Prozent so etwas wie ein Erfolg gewesen wäre. Wenn sie nicht schnell realisieren, dass das ein tragischer Irrtum ist, wenn sie die nächsten vier Jahre nicht nutzen, um sich zu einer offenen, modernen Sozialdemokratie zu reformieren, wird es ihnen genau so ergehen, wie es der ÖVP nach 1970 ergangen ist.
Der Autor ist stellvertretender Chefredakteur der "Presse".
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